Kein Antisemitismus, nirgends

Was tut man als Redakteur einer Zeitung, wenn irgendwo auf der Welt etwas geschieht, wofür man eine Erklärung benötigt, die abzugeben man selbst nicht willens oder imstande ist? Richtig, man zieht einen Experten zu Rate. Auch das Hamburger Abendblatt verfuhr so, nachdem in einer jüdischen Schule in der französischen Stadt Toulouse drei jüdische Kinder und ein Rabbiner ermordet worden waren. Zwar ist Wolfgang Benz (Foto), auf den die Wahl des Blattes fiel, schon seit einer Weile nicht mehr der Leiter des Berliner »Zentrums für Antisemitismusforschung«, aber in Deutschland immer noch der bekannteste und gefragteste Ansprechpartner, wenn es um das Thema Judenfeindlichkeit geht. Und wie bewertet die Koryphäe im Ruhestand das tödliche Treiben in Frankreich? Nun, erst einmal gar nicht, denn:

Wir brauchen zunächst mehr Informationen über den Hintergrund des Täters. Ich erkenne bisher trotz der Brutalität der Tat keine neue Dimension eines Antisemitismus in Europa. Wir wissen ja noch nicht einmal, ob die Morde wirklich ein antisemitisches Motiv hatten oder die Opfer von einem Terroristen zufällig ausgewählt worden sind. Beim Amoklauf in Oslo gab es schnell ein Bekennerschreiben. Der Attentäter Anders Breivik hatte eine Ideologie, für die er mordete. Die fehlt uns in Toulouse noch.

Da hat der Herr Professor zweifellos Recht, schließlich ist über Mohammed Merah fast nichts bekannt. Man weiß lediglich, dass er sich selbst als Al-Qaida-Kämpfer und Mudschahed bezeichnete, in pakistanischen und afghanischen Terrorcamps gesichtet wurde, in Toulouse einer salafistischen Organisation angehörte und mit seinen Morden palästinensische Kinder rächen wollte. Ein antisemitisches Motiv ergibt sich daraus natürlich noch lange nicht und erst recht keine Ideologie. Wer etwas anderes behauptet, muss ein islamophober Rassist sein (Benz kennt sich da bestens aus). Außerdem fehlt ja das Bekennerschreiben, und Merah wird es dummerweise auch nicht mehr nachreichen können, weil er jetzt tot ist. Aber das ist letztlich halb so wild, denn es gibt ja ohnehin keine neue Dimension des Antisemitismus, und überhaupt:

Ich fürchte, dass kaltblütige Taten wie die von Oslo und Toulouse normale Gewalt in einer Massengesellschaft ist. Dies hat es immer gegeben, auch in Europa. Im 19. Jahrhundert versetzten russische Anarchisten mit Bombenanschlägen die Gesellschaft in Angst. Die Sicherheitsbehörden müssen nun vor allem mögliche Nachahmer der Tat von Toulouse verhindern.

In Köln würde man sagen: Et kütt, wie et kütt, wat fott es, es fott, un et hätt noch immer joot jejange. Voll normal, das alles, und sowieso sollte man um den Judenhass nicht so ein Gewese machen, schon gar nicht hierzulande:

Ich sehe keine Zunahme des Antisemitismus. Es ist traurig genug, dass es Menschen gibt, die Juden feindlich gegenüberstehen. Doch ich warne auch vor dramatisierenden Schlagzeilen bei Veröffentlichungen dieser Studien. Ich sehe nur bei fünf Prozent der Deutschen klare judenfeindliche Einstellungen, das sind die Ewiggestrigen mit ihren Stammtischparolen. Bei vielen Befragten aber sind Ressentiments da, die nicht speziell antisemitisch sind. Würde man sie zu ihren Einstellungen beispielsweise gegenüber Österreichern oder Polen fragen, wären die Antworten vielleicht ähnlich. Wir müssen aufpassen, dass wir durch eine Dramatisierung der Studien nicht den wahren Antisemitismus verharmlosen.

Um es mit Henryk M. Broder zu formulieren: »Antisemitismus fängt bei sechs Millionen toten Juden an, alles darunter ist Friedenspolitik.« Und mit den fünf Prozent Ewiggestrigen und ihren Stammtischparolen werden wir auch noch fertig. Von den anderen, die da des Antisemitismus geziehen werden, weiß man ohnehin, dass sie eigentlich ganz friedfertige Zeitgenossen sind, die außerdem ihre österreichischen Nachbarn im Zweifelsfall genauso dafür beschimpfen, dass sie ihnen den Hitler geschickt haben, wie sie die Juden dafür hassen, dass die immer noch mit dem von den Deutschen längst vorbildlich bewältigten Holocaust ankommen. Von einem Antiaustrizismus hat man aber noch nie etwas gehört, und deshalb ist auch das ganze Getöse um den Antisemitismus völlig überzogen. Vollends absurd wird es sogar, wenn man ehrenwerte Menschen wie den SPD-Parteivorsitzenden ins Gebet nimmt, nur weil der den jüdischen Staat als Apartheidregime bezeichnet hat:

Ich kann bei Gabriels Äußerungen keinen Antisemitismus feststellen. Es ist doch nicht frei erfunden, dass Israel sich als ein Staat definiert mit einem bestimmten Staatsvolk. Und es ist auch nicht frei erfunden, dass Nichtjuden einige zusätzliche Kontrollen durch israelische Behörden über sich ergehen lassen müssen. Wenn das Gabriel an einen Staat erinnert, in dem Bürger mit zweierlei Recht behandelt werden, dann kann ich das nachvollziehen.

Eine vortreffliche Analyse, zumal der Historiker Benz sich hier mit feiner Subtilität auch als linker Staatskritiker zu erkennen gibt – schließlich ist es ja das Wesen eines jeden Staates, sich sein Staatsvolk zurechtzudefinieren, nicht zu diesem Staatsvolk Gehörende gelegentlich diversen Unannehmlichkeiten auszusetzen und es mit dem bürgerlichen Gleichheitsversprechen bisweilen nicht ganz so genau zu nehmen. Insofern besteht die Welt praktisch nur aus Apartheidregimes – ein sehr unerfreulicher Missstand natürlich, der behoben gehört. Und warum damit nicht gerade in Israel beginnen, wo man aus dem Holocaust ja viel weniger gelernt hat als in jenem Land, das ihn einst veranstaltete?

Wolfgang Benz ist also ein eminent kluger Mann, der schon früher erkannt hat, dass der Antisemitismus letztlich bloß ein Vorurteil unter vielen ist und der Antisemitismusvorwurf überdies eine derart inflationäre Verwendung findet, dass selbst einem »Mann von Reputation und einigem Nachruhm« wie Heinrich von Treitschke bitteres Unrecht angetan wird, wenn man ihm ankreidet, dass die Nazis seine harmlose Parole »Die Juden sind unser Unglück« in Anspruch genommen haben. Deshalb liegt Benz auch völlig richtig, wenn er den Attentäter von Toulouse partout nicht als Antisemiten bezeichnen will – zumal das ja schon der pietätvolle lateinische Grundsatz »De mortuis nil nisi bene« gebietet. Hierzulande kann, nein: muss man daher überaus stolz auf seinen führenden Antisemitismusforscher sein.