Recht und Gerechtigkeit

Es waren heftige Szenen, die sich am Mittwochabend beim Pokalspiel zwischen den beiden niederländischen Erstligisten Ajax Amsterdam und AZ Alkmaar zutrugen: 36 Minuten waren gespielt, als ein offenbar nahkampferprobter (zumindest aber -bereiter) Zuschauer auf den Platz lief und Alkmaars Torwart Esteban Alvarado im Sprung attackierte. Der Keeper der Gäste hatte den kahlrasierten Mann allerdings in letzter Sekunde bemerkt und schaffte es, dessen Angriff – ebenfalls im Sprung – abzuwehren (Foto oben). Der Angreifer ging daraufhin zu Boden und kassierte dort zwei weitere Fußtritte von Alvarado, bevor er von mehreren Platzordnern dingfest gemacht wurde. Schiedsrichter Bas Nijhuis stellte den Alkmaarer Torhüter mit der Roten Karte vom Platz, was geharnischte Proteste durch die Gastmannschaft zur Folge hatte und deren Trainer Gertjan Verbeek veranlasste, sein Team vom Feld zu holen und in die Kabine zu schicken. Die Partie wurde vom Referee schließlich notgedrungen abgebrochen.

Hernach gab es viel Verständnis für den Schlussmann des AZ Alkmaar, auch von Seiten der Gastgeber. »Ich habe gesehen, dass Esteban attackiert wurde und sich verteidigt hat«, sagte beispielsweise Ajax-Coach Frank de Boer, der es allerdings ernsthaft für nötig hielt, seine Ansicht vor allem mit der Herkunft des Torwarts zu begründen: »Ich weiß nicht, wie ich reagiert hätte, aber ich kann ihn mit seinem südamerikanischen Temperament verstehen.« Der Amsterdamer Finanzdirektor Jeroen Slop entschuldigte sich bei den Gästen, und der sportliche Leiter des Klubs, Danny Blind, meinte: »Was für ein Wahnsinn! Das ist ein Drama und ein historischer Tiefpunkt für Ajax.« Der frühere niederländische Fifa-Schiedsrichter Mario van der Ende hielt den Platzverweis für Esteban Alvarado dennoch für berechtigt: »Regel 12 ist ganz eindeutig«, sagte er der Tageszeitung De Telegraaf. »Wenn ein Spieler sich einer Gewalthandlung auf dem Platz oder gegen einen Zuschauer oder Offiziellen schuldig macht, ist er mit der Roten Karte zu bestrafen. Spielregeltechnisch hat Nijhuis richtig entschieden.«

In der Tat hatte der Unparteiische keine andere Wahl, denn in den Fußballregeln heißt es (deutsche Fassung, Seite 90): »Spieler, Auswechselspieler oder ausgewechselte Spieler, die eine Tätlichkeit begehen, werden des Feldes verwiesen« sowie »Als Tätlichkeit gelten auch übertriebene Härte oder Gewalt gegen eigene Mitspieler, Zuschauer, Spieloffizielle oder sonstige Personen«. Ein Recht auf Selbstverteidigung kennen die Regeln nicht; daher ist auch ein Spieler, der sich tätlich gegen eine Attacke zur Wehr setzt – gleichgültig, ob sie von einem anderen Spieler, einem Funktionär, einem Zuschauer oder gar vom Schiedsrichter ausgegangen ist –, vom Feld zu stellen. Lediglich bei der Länge der Sperre nach einem solchen Platzverweis wird von den zuständigen Instanzen berücksichtigt, ob der betreffende Spieler zuvor provoziert oder gar angegriffen wurde. Auf dem Rasen hingegen gibt es für den Referee keinen Handlungsspielraum: Wer schlägt, tritt oder spuckt, bekommt zwingend die Rote Karte – unabhängig davon, ob er selbst der Aggressor gewesen ist oder sich lediglich verteidigt hat.

Hier mag ein Dilemma vorliegen, eines, das den Unterschied zwischen Recht und Gerechtigkeit berührt: Wer würde Esteban Alvarado die moralische Legitimation absprechen wollen, den Versuch der Körperverletzung zu unterbinden und den Hooligan unschädlich zu machen? Insofern ist der empörte Protest der Alkmaarer gegen die Rote Karte für ihren angegriffenen Mitspieler zunächst einmal verständlich. Dennoch spricht viel dafür, die Ermessensspanne des Schiedsrichters in solchen Fällen extrem gering zu halten. Denn es würde ihn zwangsläufig überfordern, müsste er – und das auch noch innerhalb weniger Sekunden – unwiderruflich entscheiden, ob tatsächlich eine gerechtfertigte Selbstverteidigung vorliegt, ob sich die Wahl der Mittel als dem Zweck gegenüber angemessen bezeichnen lässt und ob das Handeln des jeweiligen Spielers alternativlos ist. Die beiden letztgenannten Punkte dürften in Bezug auf das Vorgehen von Alvarado übrigens fraglich sein – denn dass es noch zweier vehementer Tritte gegen den bereits am Boden liegenden Mann bedurfte, um diesen außer Gefecht zu setzen, kann man zumindest bezweifeln.

Zudem mögen sich all diejenigen, die sich nun in populistischer Manier darüber echauffieren, dass der Alkmaarer Torhüter vom Platz geflogen ist, einmal vergegenwärtigen, was wohl geschähe, gestünde man Spielern in – vermeintlich oder tatsächlich begründeten – Ausnahmefällen ein Faustrecht zu: Die Zahl der Ausschreitungen – vor allem in den unteren Spielklassen – würde mit großer Wahrscheinlichkeit sprunghaft ansteigen, wenn sich jeder Spieler, der angegriffen wird (oder sich auch nur angegriffen fühlt), legitimiert sähe, mit gleicher Münze zurückzuzahlen, ohne einen Platzverweis befürchten zu müssen. Denn mit absoluter Sicherheit fänden sich sofort Dritte – seien es Spieler, Trainer, Betreuer oder Zuschauer –, die den Zwist zu einer veritablen Massenkeilerei eskalieren würden. Dass es dazu, gemessen an der großen Zahl der wöchentlich stattfindenden Spiele, noch immer eher selten kommt, dürfte entscheidend damit zusammenhängen, dass auch eine zur Selbstverteidigung begangene Tätlichkeit mit einer Roten Karte geahndet wird. Auf den ersten Blick mag das dem Gerechtigkeitsempfinden widersprechen, auf den zweiten ist es eine Deeskalationsmaßnahme.

Hätte Esteban Alvarado die Attacke des Zuschauers also einfach über sich ergehen lassen sollen? Nein – und trotzdem war der Feldverweis gegen ihn aus den genannten Gründen so unausweichlich wie richtig. Andernfalls wäre ein Präzedenzfall geschaffen worden, der kaum zu kontrollierende Folgen hätte, und bei der Länge der Sperre wird das zuständige Sportgericht ohnehin berücksichtigen, dass der Keeper zuvor angegangen wurde. Bedenklich ist deshalb in diesem Zusammenhang die Entscheidung des Alkmaarer Trainers, eigenmächtig einen Spielabbruch herbeizuführen: Eine solche Konsequenz steht alleine dem Unparteiischen zu, der nicht nur die Einhaltung der Spielregeln zu überwachen (und gegebenenfalls die vorgesehenen Sanktionen zu verhängen), sondern auch zu entscheiden hat, ob die Fortführung einer Partie nach einem Zwischenfall wie jenem am Mittwochabend gefahrlos möglich ist. Vom Coach einer Profimannschaft sollte man erwarten können, dass er dies akzeptiert, auch in heiklen Situationen besonnen handelt und nicht überreagiert, wie es Gertjan Verbeek getan hat.

Update: Medienberichten zufolge hat der niederländische Fußballverband (KNVB) heute die Rote Karte für Esteban Alvarado gestrichen. Dem Torwart wurde zugute gehalten, er sei »hinterrücks überfallen worden« und habe den Angreifer deshalb nicht sehen können, weshalb sein Vorgehen »nicht zwingend mit einem Platzverweis hätte bestraft werden müssen«. So bemerkenswert die Annullierung dieses Platzverweises als solche sicherlich ist, so fragwürdig ist die Begründung dafür – schließlich wird damit die Autorität des Schiedsrichters untergraben, der sich völlig regelkonform verhalten hat. Und man kann von ihm, wie oben bereits ausgeführt, schlicht und ergreifend nicht verlangen, binnen weniger Sekunden (und unter großem Stress) zu entscheiden, wann eine Selbstverteidigung gegeben ist und wie weit sie gehen darf. Genau das aber scheint der KNVB zu erwarten. Man darf gespannt sein, wie die niederländischen Schiedsrichter darauf reagieren werden – und darüber hinaus die FIFA, die unter Androhung von Strafen gegen den jeweiligen Nationalverband darauf pocht, dass nach Platzverweisen (auch nach zweifelhaften) wenigstens die Mindestsperre von einem Spiel verhängt wird.