Wenn Christen kritisieren

Über die antiisraelische Agenda des Landessuperintendenten der Evangelischen Kirche in Österreich und der Zeitschrift Kritisches Christentum.


VON KARL PFEIFER


Es lohnt sich, die Nahostberichterstattung der fünfmal pro Jahr erscheinenden Wiener Zeitschrift Kritisches Christentum einmal genauer unter die Lupe zu nehmen. Den im neuesten Heft publizierten Beitrag des Landessuperintendenten der Evangelischen Kirche in Österreich, Thomas Hennefeld (Foto), mit dem Titel „Der Antisemitismus-Vorwurf und kein Ende“ hat bereits der Journalist (und evangelische Theologe) Ulrich Sahm analysiert. Dieser Text und die Rabulistik von Adalbert Krims, der die Zeitschrift redigiert, haben mich veranlasst, einen Blick auf sämtliche Ausgaben seit 2005 zu werfen.

Die Redaktion der Zeitschrift behauptet eine „missbräuchliche Verwendung des Begriffs Antisemitismus zur Rechtfertigung von Völker- und Menschenrechtsverletzungen durch die israelische Regierung“ und will sich „nicht verbieten“ lassen, darüber „kritisch“ zu berichten. Damit verteidigt sie sich jedoch nicht etwa gegen eine ihr gegenüber erhobene Beschuldigung, sondern beschuldigt ihrerseits nicht näher bezeichnete Personen, den Judenhass in unehrlicher und unglaubwürdiger Weise zu thematisieren und Kritiker mit einer Art Maulkorb zu versehen. Mit dieser Vorgehensweise, die der britische Soziologe David Hirsh in mehreren Essays kritisch gewürdigt hat, wird von nicht geringen Teilen der Linken jegliche Kritik am Antisemitismus abgewürgt: Sobald jemand den juden- und israelfeindlichen Diskurs kritisiert, wird ihm entgegnet, er wolle damit nur ablenken, denn es gebe nach dem Holocaust keinen nennenswerten Antisemitismus mehr – und wenn er doch zum Vorschein komme, dann trage Israel die Schuld daran.

Wer rassistische Redewendungen gebraucht, wird auch dann scharf kritisiert, wenn er sie gedankenlos oder unbeabsichtigt ausspricht. Wenn jedoch das Thema Antisemitismus berührt wird, verhalten sich „antizionistische“ Linke gänzlich anders; häufig heißt es dann, ohne antisemitische Absicht könne es gar keinen Antisemitismus geben. Und indem diese Linken sich gerne selbst bestätigen (oder durch andere bestätigen lassen), entschiedene Kämpfer gegen den Judenhass zu sein, stellen sie sich einen Persilschein für ihre Äußerungen über den jüdischen Staat aus. Wenn überhaupt, nehmen sie lediglich den Antisemitismus wahr, der aus dem rechten Spektrum kommt. Wer hingegen die linke Judenfeindlichkeit kritisiert, muss ein „Zionist“ sein und böse Absichten hegen; in linker Gesellschaft begeht man bereits einen Fauxpas, wenn man sie überhaupt zum Thema macht.

Und so verwundert es auch nicht, dass Kritisches Christentum nur so vor einseitigen, Israel dämonisierenden Texten strotzt. Die Zeitschrift vertritt eine trostlose Dichotomie: Auf der einen Seite sieht sie die guten, armen, unterdrückten Völker, auf der anderen Seite die imperialistischen USA und Israel, dem man auch schon mal einen „schleichenden Völkermord“ an den Palästinensern vorwirft.

Der reformierte Pfarrer Thomas Hennefeld schrieb bereits vor fünfeinhalb Jahren in einem Beitrag: „Eine Mauer ist eine Betonwand ist ein Sperrwall ist eine Sicherheitsanlage ist ein Zaun ist eine Trennlinie ist ein Hindernis für Terroristen ist Hindernis auf dem Weg zu einem gerechten Frieden.“ („Mauern gegen den Frieden“, März/April 2005) Weiterhin behauptete er, Siedler überfielen gelegentlich Dörfer und massakrierten deren Bewohner. „Massakrieren“ bedeutet, jemanden auf eine grausame, brutale Weise umzubringen. Wenn Hennefeld eine solch schwerwiegende Beschuldigung ohne jeglichen Beleg erhebt, zeigt er, dass er es mit der Wahrheit nicht sonderlich genau nimmt – denn diese muss konkret sein.

Hennefeld beschrieb darüber hinaus, welche Schwierigkeiten die Sperranlage – die nur zu fünf Prozent aus einer Mauer besteht – den Palästinensern bereitet; mit keinem Wort hingegen erwähnte er die rund 1.200 israelischen Zivilisten, die während der zweiten „Intifada“ von palästinensischen Terroristen umgebracht worden waren. Dafür glaubt er allen Ernstes, „der so genannte Sicherheitszaun, wie er in Israel euphemistisch genannt wird“, lasse sich „vor der Weltöffentlichkeit hervorragend verkaufen“. Außerdem verstieg er sich zu der zynischen Bemerkung, wer gegen diesen Sicherheitszaun protestiere, der müsse „ein Sympathisant von Terroristen sein oder ein Antisemit nach dem Motto: Nun zeigt sich, wer Juden nicht einmal einen Sicherheitsstreifen gönnt, um sich vor blutrünstigen Mördern zu schützen“. Flugs wird dieser Terror also rationalisiert und sogar gerechtfertigt, denn Hennefeld zufolge ist er lediglich „die Reaktion auf Besatzung und Demütigung“.

Die Methode Hennefelds ist es, zu pauschalisieren, wo immer es geht, und möglichst nicht konkret zu werden. So behauptete er, erneut ohne jeglichen Beleg: „Israelische Politiker glauben, ihr Volk durch einen ‚Zaun’ absichern zu können und gleichzeitig jenseits der Mauer nach Belieben schießen und töten zu können.“ Wenn ein palästinensischer Agitator solche Beschuldigungen erhöbe, wäre niemand überrascht. Wenn sich aber ein österreichischer Pfarrer, der sich doch zu einem universalistischen Weltbild bekennt, zum Sprachrohr einer hasserfüllten Propaganda macht und glaubt, dabei einen Dienst am Frieden zu leisten, dann ist man doch irritiert. Dennoch sollte man nicht seinen Fehler wiederholen und alle christlichen Kirchen nach ihm beurteilen.

Noch schlimmer kam es in Hennefelds vor dreieinhalb Jahren veröffentlichten Beitrag mit dem Titel „‚Nie wieder!’ Was geschieht eigentlich hinter der Mauer in Palästina? ‚Nur’ Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder schleichender Völkermord?“ (März/April 2007). Der Verfasser empfahl darin ein im Selbstverlag erschienenes Machwerk der einschlägig bekannten Ellen Rohlfs: „Auf der Suche nach dieser Wahrheit ist ihr [Rohlfs] immer stärker bewusst geworden, dass es sich bei der Politik des Staates Israels über die letzten Jahrzehnte nicht einfach um Verbrechen gegen die Menschlichkeit handle, sondern um systematische Zerstörung und schleichenden Völkermord. […] Was dabei herauskommt, ist eine einzige Anklage gegen ein verbrecherisches Regime, das sich den Staatsterror auf die Fahnen heftet und darauf auch noch stolz ist. […] Ellen Rohlfs wird aber nicht von Hass und Feindseligkeit geleitet. […] Sie kann es nicht ertragen, dass all diese Verbrechen, ja dass das Schicksal und Leid eines ganzen Volkes der Welt verborgen bleibt.“

Anfang Februar 2008 veröffentlichte Luay Shabaneh, der Präsident des palästinensischen Zentralamtes für Statistik (PCPS), die Ergebnisse der von der Palästinensischen Autonomiebehörde im Dezember 2007 durchgeführten Volkszählung. Dieser Erhebung zufolge ist seit 1997, also im Laufe eines Jahrzehnts, die arabische Bevölkerung im Gazastreifen und in der Westbank um 30 Prozent gewachsen. Das soll ein „schleichender Völkermord“ sein? Israel wird mittels einer systematischen Kampagne beschuldigt, schreckliche Verbrechen bis hin zum Genozid zu begehen, und auch der Wiener Pfarrer Hennefeld bläst in dieses Horn. Folgt man ihm und der Zeitschrift Kritisches Christentum, dann gibt es keine blutigere Auseinandersetzung als die zwischen Israelis und Palästinensern – doch angeblich erfährt niemand etwas davon. Dabei wird über keinen anderen Konflikt so viel geschrieben wie über den zwischen dem jüdischen Staat und seinen Nachbarn. Aber verlassen wir das Feld der Propaganda und schauen uns stattdessen die Wirklichkeit an.

Henryk M. Broder prägte im Zusammenhang mit dem Gerede vom „Völkermord an den Palästinensern“ den Begriff „Holocaustneid“. Er stellte fest, dass es sich „um den einzigen Völkermord in der Geschichte handelt, bei dem sich die Zahl der lebenden Subjekte von etwa 800.000 auf rund vier Millionen verfünffacht hat“. Nun ist es nicht so, dass es nicht tatsächlich Massaker in arabischen und muslimischen Ländern gibt, auf die die Welt fast ausnahmslos mit Schweigen und Gleichgültigkeit reagiert. Nur handelt es sich dabei um ein Morden, das nicht Israel oder dem oft verleumdeten Zionismus angelastet werden kann, denn bei diesen Schlächtereien werden Araber und Muslime von Arabern und Muslimen dahingemetzelt. Doch ausschließlich Israel wird vorgeworfen, Massenmorde ins Werk zu setzen. Es ist dies die moderne Version der alten christlichen Ritualmordlegende gegen die Juden. Noch Ende des 19. Jahrhunderts bestand der gemütliche Wiener Bürgermeister Karl Lueger im Reichsrat (Parlament) darauf, gewisse „jüdische Sekten“ begingen solche rituellen Verbrechen.

Die zionistische Einwanderung, die damals begann, führte zu einem Konflikt zwischen Juden und Arabern. Doch bis 1948 gab es auf beiden Seiten nicht mehr als einige tausend Tote. Die meisten Araber, die während dieser Jahre ums Leben kamen, wurden dabei von Arabern umgebracht, so zum Beispiel in den Jahren des arabischen Aufstandes zwischen 1936 und 1939. Viele andere wurden von den Briten im Kampf getötet oder hingerichtet. Und als 1948 Jordanien und Ägypten Teile des Heiligen Landes besetzten, erhängten sie Hunderte von Palästinensern; nicht zu reden vom „Schwarzen September“ 1970. Erst Israel schaffte die Todesstrafe in den palästinensischen Gebieten ab.

Tatsächlich sind in allen Kriegen und Konflikten mit Israel rund 60.000 Araber getötet worden, einige Tausend davon nach der israelischen Besatzung 1967, die meisten jedoch während der beiden „Intifadas“: Jene, die 1987 begann, führte zum Tod von 1.800 Menschen, und in derjenigen, die im Jahr 2000 ihren Anfang nahm, kamen 3.700 Palästinenser ums Leben. In der Zwischenzeit gab es noch ein paar hundert Todesopfer. Ein paar hundert, wohlgemerkt, nicht Tausende oder gar Millionen.

Der Tod eines jeden Arabers und eines jeden Muslims ist selbstverständlich zu bedauern. Aber es muss auch gefragt werden, wie viele Araber und Muslime in diesen Jahren in anderen Ländern getötet wurden – zum Beispiel von Russen und Franzosen – und wie viele Araber, Muslime und andere Menschen während dieser Zeit von Arabern und Muslimen getötet wurden. Die Zahlen, die verschiedene Forscher, Organisationen und Staaten sowie die Uno angeben, stimmen nicht überein. Doch sogar die niedrigsten Zahlen ergeben ein schreckliches Bild und übertreffen bei weitem diejenigen des gesamten arabisch-israelischen Konflikts.

Nehmen wir Algerien als Beispiel: Einige Jahre nach der Gründung Israels begann dort ein Unabhängigkeitskrieg, der von 1954 bis 1962 dauerte. Die Zahl der dabei von den Franzosen getöteten Muslime schätzt man heute vorsichtig auf 600.000. Dennoch sind es die Franzosen, die nicht aufhören, den Israelis Moralpredigten zu halten. Nach dem Krieg kam es zu weiteren Massakern: 1991 wurde in Algerien mehrheitlich die Islamistische Heilsfront (FIS) gewählt, doch die Armee erkannte das Wahlergebnis nicht an. Anschließend tobte ein Bürgerkrieg zwischen der Zentralregierung, die von der Armee unterstützt wurde, und islamistischen Bewegungen. Zurückhaltende Schätzungen gehen von wenigstens 100.000 Opfern aus; mehrheitlich handelte es sich dabei um unschuldige Zivilisten. In etlichen Fällen wurden ganze Dörfer, Frauen, Kinder und alte Menschen im Namen des Islams buchstäblich abgeschlachtet.

Man könnte an dieser Stelle auch näher auf die brutalen Menschenrechtsverletzungen im Sudan, in Indonesien, im Irak, in Syrien, im Jemen, in Somalia und in Nigeria eingehen. In allen diesen Fällen schweigen die meisten Medien, und es wird keinerlei Empörung laut – insbesondere deshalb, weil es einen grässlichen antiarabischen und antimuslimischen Rassismus gibt, dessen Anhänger Araber und Muslime nicht für fähig halten, universelle Menschenrechte zu respektieren. Wohl nicht zuletzt deshalb prangert Kritisches Christentum lediglich den jüdischen Staat an.

Hier sind nur zwei Texte von Superintendent Thomas Hennefeld einer Betrachtung unterzogen worden; zu diesen und weiteren Beiträgen über den Nahen Osten ließe sich noch weitaus mehr sagen. Diese „kritischen Christen“ führten während der Zeit des „realen Sozialismus“ mit den entsprechenden Diktaturen einen herzlichen Dialog, und in dieser Tradition gelten ihre Sympathien jetzt den rückständigsten Systemen der Welt. Sie behaupten, die Lage der Christen in den von Israel besetzten Gebieten sei furchtbar, und berufen sich dabei auf die Aussagen palästinensischer Christen, die nicht von der offiziellen Propaganda abweichen, weil sie wissen, dass jede Klage über reale Probleme mit den muslimischen Nachbarn ihr Leben gefährdet.

Tatsache ist, dass aus sämtlichen arabischen und muslimischen Ländern immer mehr Christen auswandern – was nichts mit Israel, dafür jedoch alles mit dem Erstarken des Islamismus zu tun hat. Für das Kritische Christentum ist das jedoch nicht erwähnenswert, und wenn in Ägypten Muslime Pogrome gegen Kopten veranstalten, wie beispielsweise zu Beginn dieses Jahres, dann ist das ebenfalls kein Thema für die Zeitschrift. Denn wenn es nicht gegen Israel geht, dann lassen sie sich sehr wohl den Mund verbieten, dann beherzigen sie nicht das Gebot der Solidarität (Matthäus 40) mit ihren eigenen Brüdern und Schwestern.

Es macht betroffen, dass ein Wiener Pfarrer bereit ist, einseitige Propagandainhalte zu transportieren, mit denen die ohnehin schon gegen den jüdischen Staat konditionierten Leser in ihrer Meinung auch noch bestätigt werden.

Foto: © Evangelische Kirche in Österreich