Der Politologe Wahied Wahdat-Hagh* analysiert die Situation im Iran und berichtet über den Genozid an den Bahai. Dass die Europäer die Führerdiktatur unterstützen, bezeichnet er als schweren Fehler.
INTERVIEW: STEFAN FRANK
Die Ära des iranischen Präsidenten Ahmadinedjad ist zu Ende. Was waren die wichtigsten Entwicklungen in seiner achtjährigen Amtszeit?
Wahied Wahdat-Hagh: Das Land ist ärmer geworden. Die Probleme des Landes sind gewachsen. Iran ist potenziell der Atombombe näher gekommen. Die antisemitische Staatsdoktrin, die in der Ideologie verankert ist, ist deutlicher zum Ausdruck gekommen. Der Iran ist isolierter als vorher.
Was ist aus der grünen Demokratiebewegung von 2009 geworden? Wie fest sitzt das Regime im Sattel?
Dank totalitärer Gesetzgebung, Bassiji und Revolutionsgardisten, Ölgeld und einer fanatischen Schar von Anhängern ist die grüne Demokratiebewegung zerschlagen worden. Die Diktatur sitzt zwar fest im Sattel, aber voraussagen kann man die Geschichte des Iran nicht. Die Bevölkerung hält gegenwärtig still, weil sie weiß, wie die staatliche Antwort sein könnte: Folter und Todesstrafe, Vergewaltigung von Frauen und Kindern in den Gefängnissen.
Vor den jüngsten Parlamentswahlen im Iran schrieben westliche Journalisten von »Moderaten« und »Hardlinern« . Gehen sie bloß dem Teheraner Regime und seiner Demokratiepersiflage auf den Leim, oder gab es tatsächlich Unterschiede zwischen den Kandidaten?
Prinzipiell muss man sagen, dass die Reform-Islamisten und Hardliner beide die totalitäre Diktatur mit unterschiedlichen Methoden stabilisieren wollen. Die elften Präsidentschaftswahlen sahen zwar aus wie Wahlen, aber demokratisch waren sie nicht. »Islamische Wahlen« nennen sie die iranischen Machthaber. Sie dienen lediglich der Mobilisierung der Bevölkerung, sie soll mit ihrer Teilnahme die Diktatur legitimieren. Von 686 Kandidaten, die sich um das Amt des Präsidenten beworben hatten, wurden nur acht zugelassen.
Hassan Rohani ist also keineswegs ein Reform-Islamist?
Nein. Sogar Ex-Präsident Khatami, der ursprünglich dazu aufgerufen hatte, ihn zu wählen, bat vor einigen Tagen Ahmadinedjad, die Reform-Islamisten Mehdi Karoubi und Mir-Hussein Moussavi aus der Haft zu entlassen, weil dies von Hassan Rohani nicht erwartet werden könne. Rohani war seinerzeit absolut gegen die grüne Bewegung, die sehr bunt war. Auch die Demonstranten der Demokratiebewegung der Jahre 1989 und 1999 hatte er schon als »Verräter« bezeichnet.
Rohani hat sich vorgenommen, die wirtschaftlichen Probleme zu lösen. Kann er das?
Rohani selbst hat kürzlich gesagt, dass kein iranischer Präsident vor dem Amtsantritt mit so großen wirtschaftlichen Problemen konfrontiert gewesen sei, weshalb man die Erwartungen an ihn herunterschrauben solle. Da er im Atomprogramm – das von Revolutionsführer Ali Khamenei definiert wird – auf das Anreicherungsprogramm nicht verzichten will, werden die Sanktionen nicht aufgehoben werden. Die Ursache der sozialen und wirtschaftlichen Probleme des Iran liegen ohnehin viel tiefer. Schon vor den Sanktionen wurden die gesamten Öleinnahmen in das Rüstungs- und Atomprogramm gesteckt, statt dass man sich daran gemacht hätte, soziale Probleme zu lösen.
Was ist mit den Menschenrechten?
Davon will Rohani nichts wissen. Er ist kein Demokrat. Er verteidigt das Strafgesetz und will lediglich Freiheiten im Rahmen der existierenden Strafgesetzgebung – eine Gesetzgebung, die die Todesstrafe für Menschen fordert, die angeblich die nationale Sicherheit des Landes gefährden, wozu auch Frauen- und Menschenrechtler gehören können. Für ihn bedeutet die Ausübung der Scharia-Gesetze die Realisierung der »islamischen Menschenrechte«. Auch die Amputation von Gliedern wird nicht als Folter verstanden, sondern als »Menschenrecht«. Rohani verteidigt die Steinigung, die systematische Verfolgung von Bahai, die Zwangsverschleierung der Frauen oder die Hinrichtung von Homosexuellen. Die Verfassung und die Strafgesetzgebung des Iran stehen diametral entgegengesetzt zu westlichen Vorstellungen von Menschenrechten, und Rohani stellt sie nicht infrage. Er wusste als Mitglied des Obersten Sicherheitsrates seit 1989 höchstwahrscheinlich auch von allen Terroranschlägen, die der Iran im Ausland verübt hat.
Der geistliche Führer Ajatollah Khamenei ist der mächtigste Mann im Iran. Kann er wichtige politische Entscheidungen allein treffen, oder gibt es Personen oder Gruppen, deren Interessen er berücksichtigen muss?
Die »Islamische Republik Iran« ist eine totalitäre Massendiktatur, eine Führerdiktatur, die mit Hilfe von totalitären Organen gestützt wird. Um Khamenei herum sind totalitäre Institutionen, wie der Nationale Sicherheitsrat, in dem Rohani seit über 20 Jahren hohe Posten hat, oder der Wächterrat und persönliche Berater, die ihm natürlich bei seiner Entscheidungsfindung helfen, wenn es etwa darum geht, wer im Ausland mit Hilfe der Hisbollah hingerichtet wird, wo Bomben gelegt werden oder wie man das Atomprogramm forcieren kann.
Im syrischen Bürgerkrieg unterstützt Teheran das Assad-Regime. Ist das der verzweifelte Versuch eines international isolierten Regimes, einem seiner wenigen Verbündeten beizustehen? Oder stärkt der Iran damit seine Position in der islamischen Welt, wäre demnach also in der Offensive?
Außenpolitisch handelt der Iran rein machtpolitisch und ist bestrebt, die »islamische Revolution« zu exportieren, also den Terrorismus zu finanzieren und Terrororganisationen aufzubauen. Hauptsächlich richtet sich dieser Terrorismus gegen Israel und die Juden, gegen Amerikaner und westliche Soldaten. Beispielsweise hat der Iran jahrzehntelang sunnitische und sogar linke palästinensisch-militante Terrorgruppen finanziert und zu Konferenzen nach Teheran eingeladen, obwohl sie nicht schiitisch waren. Assads Regierung ist auch nur eine alawitische, das heißt eine Abspaltung der Schia. Die Machthaber der »Islamischen Republik Iran« haben aber ein besonderes Problem mit Israel. Es geht hier um nicht weniger als die islamistische Staatsdoktrin. Sie haben die fixe Idee, Jerusalem zu »befreien«. Deswegen würden sie sich vielleicht mit der US-Regierung an einen Tisch setzen, aber niemals mit der israelischen. Sie wollen Israel als Staat nicht akzeptieren, sondern dessen Untergang und Zerstörung. Syrien ist vor diesem Hintergrund für den Iran relevant als ein geostrategisch wichtiges Land für den Export des Terrorismus, eine Militärbasis und Transitland für die Lieferung von Waffen an die libanesische Hisbollah.
Welche Rolle spielen im Iran radikale religiöse Geheimorganisationen wie die Hojjatieh oder klerikale Zentren wie die Universität Qom?
Die Hojjatieh ist eine Anti-Bahai-Gruppe. Sie ist in den diktatorischen Institutionen tief verwurzelt und verankert. Die »University of Religions and Denominations« (URD) in der Stadt Qom, eine islamistische Kaderschmiede, spielt ebenfalls eine schlimme Rolle. Inzwischen ist bekannt geworden, dass das iranische »Ministerium für Erziehung« Lehrer aus dem ganzen Land nach Qom schickt, um diese dort in Anti-Bahai-Propaganda zu unterweisen. Diese Lehrer setzen dann insbesondere Bahai-Schüler unter Druck, damit diese zum Islam konvertieren. Die Bahai International Community (BIC) hat im März 2013 einen neuen Bericht über die Menschenrechtsverletzungen gegen die Bahai im Iran veröffentlicht. Es werden über 300 Fälle dokumentiert, in denen seit 2005 Schüler zur Konversion gezwungen werden sollten. In vielen Fällen wurden Schulkinder dazu aufgefordert, ihre Religion vor der Klasse zu kritisieren und zum Islam zu konvertieren. Schulkinder und ihre Eltern haben oft Angst, über solche Erlebnisse zu berichten, weil sie befürchten müssen, noch mehr öffentlich drangsaliert zu werden. Erschreckenderweise arbeitet die Universität Potsdam mit der URD zusammen, und die Universitätsleitung und der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD) verteidigen das auch noch.
Ist die Verfolgung der Bahai in den letzten Jahren verschärft worden?
Seit mehr als drei Jahrzehnten werden die Bahai in der »Islamischen Republik Iran« systematisch verfolgt. Seit 1979 wurden über 200 Bahai hingerichtet, Hunderte wurden inhaftiert und gefoltert. Zehntausende dürfen nicht arbeiten. Bahai dürfen nicht studieren. Die Bahai werden vom islamistischen Regime als eine »häretische Sekte« bezeichnet, obwohl unter Experten fast unumstritten ist, dass sie Anhänger einer neuen Weltreligion sind, die in demokratischen Staaten respektiert wird.
Wie viele iranische Bahai sitzen wegen ihrer Religion im Gefängnis?
Von Anfang 2005 bis Ende 2012 wurden mehr als 660 Bahai verhaftet. Etwa 300 der verhafteten Personen bekamen Gefängnisstrafen. Im März 2013 waren noch etwa 115 Bahai in Haft. Weitere 140 warten auf Gerichtsurteile und etwa 280 Personen warten auf ein Gerichtsverfahren. Seit 2009 gibt es für den landesweiten Kampf gegen »Bahai, Sufis und Teufelsanbeter« sogar ein festes Budget im Staatshaushalt.
Teufelsanbeter?
Ja, als Teufelsanbeter werden vom iranischen Staat beispielsweise Jugendliche bezeichnet, die Heavy-Metal-Musik hören.
Wie äußert sich die Verfolgung der Bahai im Alltag?
Seit 2002 werden die Universitäten streng kontrolliert, damit kein Bahai sich an den Zulassungsprüfungen beteiligen kann. Der Ausschluss von den Hochschulen bleibt eine gängige Praxis. Zwar wurde Ende 2003 erklärt, dass die Religionszugehörigkeit bei den Bewerbungen an den Universitäten keine Rolle spiele. Aber es wurde sehr bald deutlich, dass die Bahai dennoch nicht an den Universitäten studieren können. Denn die Bahai-Religion wird überhaupt nicht als Religion anerkannt. Seit Jahren wurden die Bahai gezwungen, eigene private Universitäten aufzubauen, die Fernstudien auch mit Lehrkräften aus dem Ausland anboten. In den letzten Jahren wurden einheimische Lehrkräfte engagiert, die dem Regime jedoch als Kriminelle gelten. Ein islamisches Revolutionsgericht verurteilte im Oktober 2011 sieben dieser Hochschullehrer zu Haftstrafen zwischen vier und fünf Jahren.
Ist nur die Regierung den Bahai gegenüber feindlich eingestellt oder auch Teile der Bevölkerung?
Die Masse reagiert auf die Hasspropaganda manchmal prompt, immer wieder werden Häuser von Bahai-Familien zerstört oder in Brand gesetzt. Angriffe auf Bahai bleiben straflos. Zu den Tätern gehören übereifrige religiöse Fanatiker, die in den Gefängnissen als Wärter fungieren, Mitglieder der Bassij-Miliz und zivil gekleidete Geheimdienstler, die den Auftrag bekommen, zuzuschlagen und Dissidenten zu erniedrigen. Selbst einfache Bürger beteiligen sich an Angriffen auf Bahai. Es waren die staatlichen »Gewerkschaften«, die forderten, dass zwei Optikerläden, deren Besitzer Bahai waren, geschlossen werden müssten. Auch Kopierläden, die Bahai gehörten, wurden geschlossen. Vor allem Supermärkte sollen die Bahai nicht führen. Denn sie gelten als najis, als schmutzig, deswegen sollten Muslime bei ihnen nicht einkaufen. Bahai-Ärzte werden aus den Kliniken vertrieben. Muslime werden eingeschüchtert, um sie zu zwingen, ihren Kontakt mit Bahai abzubrechen. Der Hass der Islamisten macht vor den Toten keinen Halt. Viele Friedhöfe der Bahai wurden zerstört, Grabsteine wurden gestohlen, Bäume und Pflanzen ausgerissen.
Manche sprechen von einem Genozid an den Bahai. Ist dieser starke Begriff gerechtfertigt?
Ja. Gemäß dem Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofes ist die systematische Verfolgung der Bahai ein Verbrechen gegen die Menschheit. Die dort genannten Kriterien für ein solches Verbrechen lauten: »Verfolgung einer identifizierbaren Gruppe oder Gemeinschaft aus politischen, rassischen, nationalen, ethnischen, kulturellen oder religiösen Gründen, Gründen des Geschlechts … oder aus anderen nach dem Völkerrecht universell als unzulässig anerkannten Gründen im Zusammenhang mit einer in diesem Absatz genannten Handlung oder einem der Gerichtsbarkeit des Gerichtshofs unterliegenden Verbrechen.« Auch Artikel 6 des Statuts über den Genozid trifft auf das Vorgehen gegen die Bahai zu. Dort heißt es, dass von Genozid immer dann gesprochen werden kann, wenn Mitglieder einer religiösen Gruppe getötet werden, wenn sie körperlich oder psychisch ernsthaft verletzt werden oder wenn die physische Zerstörung von Teilen der Gesellschaft oder ihrer Gesamtheit beabsichtigt wird. In Anbetracht der Tatsache, dass das khomeinistische Regime die Vernichtung der Bahai-Gemeinde im Iran systematisch durchsetzen will, mit Erfolg auch die gesamte administrative Struktur der Gemeinde zerstört und Tausende in ihrem Recht auf Eigentum, Bildung, berufliche Tätigkeit und persönliche Freiheit gänzlich eingeschränkt hat, kann man von einem Genozid sprechen. Denn ein Genozid findet in einem Prozess statt, dem die iranischen Bahai gegenwärtig ausgesetzt sind. Keine andere Minderheit ist einer solchen systematischen Unterdrückung und Verfolgung ausgesetzt, dennoch schauen die europäischen Regierungen tatenlos zu und verfolgen ihre nationalegoistischen Wirtschaftsinteressen.
Wie ist die Situation der Christen, Sunniten und Juden im Iran?
Christen und Juden sind keine einheitlichen Gruppierungen. Die traditionellen Christen und Juden sind unzufrieden, passen sich aber an. Sie verstehen sich primär als Angehörige ihrer jeweiligen Glaubensgemeinschaft, besonders die Juden. Wenn ein Jude sich mit Israel solidarisiert oder wenn ein Muslim Christ wird, ist er gefährdet. Sunniten als eine islamische Gruppierung dürfen weder einen Präsidentschaftskandidaten stellen noch eigene Moscheen betreiben. Neben den von Ihnen genannten Religionsgruppen werden auch die Sufis im Iran verfolgt und diskriminiert.
Was könnte der Grund dafür sein, dass westliche Regierungen und Medien der Lage unterdrückter Minderheiten im Iran noch viel weniger Aufmerksamkeit schenken als etwa im Falle Chinas? Was kann und sollte der Westen tun?
Ein Grund ist sicherlich die wirtschaftliche Bedeutung des iranischen Markts, der gute Investitionsmöglichkeiten bietet. Die deutsche Wirtschaft könnte darauf verzichten, tut es aber nicht. Dann ist da noch das sicherheitspolitische Problem. Beispielsweise verbieten die Europäer nicht die Hisbollah komplett, weil sie Angst haben vor den Reaktionen des Iran, vor dem Terrorismus. Der Westen und konkret Europa sollte die Welt nach eigenen Maßstäben der Demokratie, Menschenrechten und Freiheit behandeln. Das könnte den Minimalkonsens für den politischen Frieden weltweit bieten, den wir brauchen. Die Europäer interessieren sich nicht wirklich für die Freiheit im Iran. Sie schimpfen zwar gerne auf die Amerikaner, die in den 1960er- und 1970er-Jahren Diktaturen unterstützten, aber Europa unterstützt die heutige islamistische Diktatur im Iran und profitiert davon. Dies wird sich historisch rächen.
* Wahied Wahdat-Hagh, Diplom-Soziologe und -Politologe, wurde 1957 in Ludwigsburg geboren. Er ist deutscher Staatsbürger und hat seine Kindheit in Teheran verbracht. Wahdat-Hagh war Lehrbeauftragter an der Alice-Salomon-Fachhochschule, an der Fachhochschule für Recht und Verwaltungspflege in Berlin und am Fachbereich Politik- und Sozialwissenschaften der Freien Universität Berlin. Seit 2006 arbeitet er für die European Foundation for Democracy (EFD). Zudem ist er Mitglied des auf Beschluss des Deutschen Bundestages eingerichteten Expertenkreises Antisemitismus. Jüngste Buchveröffentlichung: Der islamistische Totalitarismus – über Antisemitismus, Anti-Bahaismus, Christenverfolgung und geschlechtsspezifische Apartheid in der »Islamischen Republik Iran«, Frankfurt/Main u.a. 2012.
Das Interview erschien zuerst in der Schweizer Monatszeitschrift factum und wird hier mit freundlicher Genehmigung der Redaktion, des Autors und des Interviewpartners wiedergegeben.
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