Mit der Auszeichnung der israelischen Historikerin Yfaat Weiss hat die Stadt Bremen vor allem sich selbst auf die Schulter geklopft. Gleichwohl – oder gerade deshalb – hat sich Torsten Schulz die Ehrung dieser neuesten Kronzeugin der Anklage gegen Israel und die Hintergründe für die Preisverleihung einmal genauer angesehen.
VON TORSTEN SCHULZ
Alle Jahre wieder lobt die Stadt Bremen einen Preis für »politisches Denken« aus, und die grüne Heinrich-Böll-Stiftung steuert dazu das intellektuelle Rahmenprogramm bei. Der Preis trägt den Namen Hannah Arendts und soll nach Darstellung der Stifter Personen auszeichnen, »die mit ihren Interventionen das ›Wagnis Öffentlichkeit‹ angenommen haben«. Nun könnte man argwöhnen: Wo Interventionen von ohnehin mehr oder weniger öffentlichen Personen zum Wagnis verklärt werden, damit eine Jury ihnen eine finanzielle Zuwendung zuerkennen kann, lauert die fixe Idee, bestimmte Dinge könne man ja nicht offen sagen, schon hinter der nächsten Ecke. Und tatsächlich scheint die jährliche Hannah-Arendt-Preisverleihung mitunter kein ganz unzuverlässiger Gradmesser zu sein, wo in dieser Hinsicht gerade die Kampflinie verläuft. So ging der Preis im Jahr 2007 auf dem vorläufigen Höhepunkt des Hypes um »die Israel-Lobby« an Tony Judt, der parallel gleich noch den Remarque-Preis der Stadt Osnabrück abräumen konnte. In diesem Jahr geht er an Yfaat Weiss, was die Böll-Stiftung bereits im Juli vermeldete und damit begründete, es sei besonders hervorzuheben, »wie sehr durch die Art und Weise, in der Frau Weiss die Geschichte ihres Landes erzählt, die historische Forschung und die öffentliche Meinungsbildung ermutigt werden, sich auf die Besonderheiten in der israelischen Geschichte und Gesellschaft einzulassen«.
Die einzige Publikation der Jerusalemer Professorin, die in diesem Zusammenhang konkret erwähnt wird, ist das 2011 erschienene Buch A Confiscated Memory, dessen Titel in der deutschen Ausgabe als Wadi Salib – Haifas enteignete Erinnerung in den Untertitel rutschte, um einem hierzulande anscheinend viel eingängigeren Verdrängte Nachbarn Platz zu machen. Die Unverfrorenheit, mit der die deutsche Meinungsbildung sich ihrerseits ans Enteignen der israelischen Geschichte gemacht hat, nachdem sie sich durch die Erzählung der neuesten »neuen Historikerin« augenscheinlich dazu ermutigt fühlte, trägt schon groteske Züge. So behauptete die Pressestelle des Bremer Senats im Vorfeld der Preisverleihung, die Autorin schildere in ihrem Werk »die Vertreibung arabischer Einwohner während des Krieges 1948«. Der Weser-Kurier übernahm diese Formulierung gleichlautend, die Online-Ausgaben von Welt, Zeit, Süddeutscher Zeitung und noch mindestens drei Dutzend regionaler und überregionaler Zeitungen ebenso. Und der Deutschlandfunk wusste sie in seiner Berichterstattung sinngemäß zur »Geschichte der Vertreibung arabischer Einwohner aus Haifa« zu konkretisieren beziehungsweise gleich ganz bildhaft zur »Vertreibung arabischer Einwohner aus ihren Häusern«.
Wie aus einem Mund werden da die gleichen Unwahrheiten verkündet, angefangen schon mit der durchsichtigen Behauptung, Yfaat Weiss habe mit »Studien zu Vertreibung und Erinnerung« – man glaubt es kaum – »Aufmerksamkeit erregt«. In Wirklichkeit kann nicht einmal der Klappentext rezipiert worden sein, den die Hamburger Edition der erst in diesem Jahr erschienen deutschen Übersetzung von A Confiscated Memory verpasst hat: Dort steht immerhin zu lesen, dass die arabischen Bewohner Wadi Salibs »flüchteten oder vertrieben wurden«, wobei auch das nur die halbe Wahrheit darstellt. Beim Festakt im Bremer Rathaus verstand es Willfried Maier als Vertreter der Jury, diesen auch hierzulande nicht unbekannten Topos von »Vertreibung und Flucht« in Kombination mit einer arabischen Bevölkerung – pardon: ihres »größten Teils« – gleich doppelt zu variieren: mal zu »Flucht und Vertreibung«, dann wiederum auch in der Form von »Vertreibung bzw. Flucht«. Aber auch Maier scheint nicht einmal bis zur ersten Seite der Einleitung vorgedrungen zu sein, wo Weiss zunächst korrekt wiedergibt, was sich im April 1948 tatsächlich abgespielt hat:
»Während der Kämpfe und im Gefolge der Niederlage flüchteten die muslimischen Bewohner Wadi Salibs sowie die überwiegende Mehrheit der arabischen Bevölkerung Haifas. Von den circa 65.000 arabischen Bewohnern, die etwa die Hälfte der Stadtbevölkerung ausmachten, waren im Sommer 1948 nur noch an die 3.500 zurückgeblieben.«
Was die Historikerin im Folgenden eher herunterzuspielen sucht, ist der Hintergrund dieses unnötigen Exodus. Dieser besteht im bewussten Kalkül der lokalen arabischen Führer, ungeachtet der mehr als kulanten Kapitulationsbedingungen eine Einigung mit den Juden kategorisch auszuschlagen. Die Bemühungen der Hagana, die arabische Bevölkerung mit Flugblättern und der Zusicherung einer Gleichbehandlung individuell zum Bleiben zu bewegen, waren danach weitestgehend erfolglos.
Eine »Vertreibung arabischer Einwohner während des Krieges 1948« aus Haifa gibt es jedenfalls nur in den Köpfen einer Einheitsfront staatlicher und privater Meinungsbildner, die durch die Bank annehmen werden, Yfaat Weiss’ Buch liefere ihnen dafür den Beleg. Tatsächlich ließe sich auf der Grundlage der versammelten Fakten mit wesentlich größerer Berechtigung behaupten, Verdrängte Nachbarn handele von den mörderischen Pogromen (bei Weiss: »gewalttätige Zwischenfälle«), die die jüdische Bevölkerung Marokkos aus der Mellah trieben – der nordafrikanischen Spielart des Ghettos –, die hier freundlich als die »jüdischen Viertel in den großen Städten« vorgestellt wird, in der Bremer Dankesrede der Autorin dagegen penetrant als beliebige »Armenviertel« und damit noch in eins gesetzt wird mit den Teilen Haifas, in denen marokkanische Juden schließlich Zuflucht fanden. Aber so ist das Buch nicht gedacht, so funktioniert es nicht, das versteht offensichtlich auch, wer es nicht gelesen hat, von selbst, und in dieser Form hätten die Freunde der Besonderheiten in der israelischen Geschichte und Gesellschaft auch gar keine Verwendung dafür.
Was sich die Stifter noch immer erhoffen, wo der Ehrung einer Israelin eine »hochpolitische Dimension« zugeschrieben wird, hat für die Heinrich-Böll-Stiftung Ralf Fücks in seiner Laudatio unfreiwillig auf den Punkt gebracht. Neben salbungsvollen Worten für eine Zweistaatenlösung und Angela Merkels Phrase von der Sicherheit Israels als »Teil der deutschen Staatsräson« legte er offen dar, was die Bremer Fans so für die Professorin begeistert: Da ist dieser »Mut, sich auf vermintes Terrain zu begeben«, dorthin zu gehen, »wo es weh tut«, wie man im Fußball sagen würde, »ans Eingemachte« eben, und damit an »wunden Punkten« zu rühren, »die bis heute nicht verheilt sind«. Nicht bei ihnen, versteht sich, sondern bei den anderen. Und auch nicht einfach bei irgendwelchen anderen, sondern bei den anderen schlechthin, denen, die man sich schon immer als die Anderen vorstellt. Deren Ausschluss findet seinen sinnfälligen Ausdruck darin, dass die Preisverleihung ungeachtet wiederholter Beschwerden seitens der Jüdischen Gemeinde auch in diesem Jahr wieder auf einen Freitagabend, das zugehörige Symposium auf einen Samstagmorgen gelegt wurde.
»In ihrem Beharren darauf, dass die historische Wahrheit nicht der politischen Opportunität geopfert werden darf«, geht Weiss laut Fücks »auch das Risiko des Beifalls von der falschen Seite ein«. In Bremen drohte nichts dergleichen. Hier bekam sie den Beifall eindeutig von der richtigen Seite. Wenn dann neben der »Integrität als Historikerin« ausgerechnet die »Genauigkeit ihrer Sprache« über den grünen Klee gelobt wird, möchte man das am liebsten für einen bösen Witz halten. Tatsächlich steht wohl zu befürchten, dass die Heinrich-Böll-Stiftung sprachliche Formulierungen genau dann als besonders treffend goutiert, wenn sie ihren Gegenstand bestmöglich verwischen.
Ein paar Anmerkungen zu Verdrängte Nachbarn seien noch gestattet. In einer Fußnote erklärt die Autorin im Zusammenhang mit den von der Hagana gestellten Kapitulationsbedingungen für Haifa (die sie mit einem »Wehe den Besiegten« kommentiert) unter anderem, es sei die »Festnahme aller Nationalsozialisten aus Europa« gefordert worden, »die sich in die Reihen der arabischen Kampftruppen eingeschlichen hatten«. Wie die Historikerin es sich vorstellt, dass sich europäische Nazis im Frühjahr 1948 in arabische Kampfverbände eingeschlichen hätten, würde man schon gern erfahren – vor allem, warum auch nur ein einziger Nationalsozialist diesen Unsinn hätte versuchen sollen, wo er sich doch ganz offen anwerben und in Sold nehmen lassen konnte. (Etwas besser erklärlich würde dieser erstaunliche Vorgang möglicherweise vor dem Hintergrund, dass sich zuvor schon bosnische und albanische Muslime in Divisionsstärke in die Waffen-SS eingeschlichen hatten, unter tatkräftiger Anleitung des Großmuftis von Jerusalem, der sich in Berlin eine Apanage der Nazi-Regierung erschlichen hatte.)
Den gewaltsamen Bevölkerungstransfer im Zuge der Teilung Indiens, die zeitlich mit dem Teilungsbeschluss für Palästina nahezu zusammenfiel, bezeichnet Yfaat Weiss ganz wertfrei als eine »Migration«. Dabei forderte dieser Beschluss etwa so viele Todesopfer, wie der israelische Unabhängigkeitskrieg arabische Flüchtlinge produzierte. Die Shoa schließlich erscheint in Gestalt von »verheerenden Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs auf die jüdische Demografie«, und ob Weiss diese Formulierung nun so gelungen findet, dass sie davon nicht lassen kann, oder ob sie meint, sie ihrem deutschen Publikum einfach schuldig zu sein, sei einmal dahingestellt – auch in ihrer Bremer Dankesrede durfte sie jedenfalls nicht fehlen.
Indem die Stadt Bremen ausgerechnet einem von solchen, freundlich formuliert: Auslassungen durchzogenen Machwerk das Gütesiegel nüchterner und genauer Historiografie verleiht und sich damit ihr ohnehin vorgefasstes Bild vom jüdischen Staat bestätigt, zeigt sie, wie wenig sie von den unappetitlichsten Antizionisten ihrer Bürgerschaft trennt. Während die Bremer Linkspartei und das Friedensforum den gegen Israel gerichteten Geschichtsrevisionismus in ihrer plumpen Art bis heute in Form einer Broschüre mit dem Titel Brennpunkt Nahost unters Volk zu bringen suchen, die von der israelischen »Holocaustreligion« und ihrem »hohen Priester Elie Wiesel« raunt, ist der rot-grüne Senat im Verein mit der Heinrich-Böll-Stiftung ihnen in Formfragen den Schritt voraus, mit Yfaat Weiss nur in aller Unschuld zu hinterfragen, »inwieweit die offizielle Geschichtspolitik, den Holocaust zur einzigen Gründungserzählung in Israel zu erheben, zu einem Problem im Zusammenleben der dortigen Gruppen geworden ist«.
Wollte man dem angeblichen Problem ernsthaft auf den Grund gehen, dann ließe sich mit Leichtigkeit feststellen, dass sich aus den offiziellsten Darstellungen, die zu diesem Thema zu erhalten sind – den Verlautbarungen des israelischen Staates und seiner Organe –, nichts dergleichen ableiten lässt. Die Gründungsgeschichte des Landes wird darin ganz anders erzählt, als man es in Bremen zu wissen glaubt. Ein Israeli wüsste diese Zuschreibungen dementsprechend auch schwerlich zu wechseln, für den deutschen Adressaten dagegen scheint sich bezeichnenderweise jede weitere Erläuterung zu erübrigen. Die Senatspressestelle ist sich offenkundig sicher, da schon richtig verstanden zu werden.
Wie die offizielle Geschichtspolitik Bremens und der Antizionismus der Straße in schönster Eintracht zueinander finden, war im März dieses Jahres zu beobachten, als das Landesinstitut für Schule Bremen im Rahmen der Lehrerfortbildungsveranstaltung mit dem Titel »Palästina – (k)ein Thema für den Unterricht?!« mit Arn Strohmeyer ausgerechnet einen der umtriebigsten Israelfeinde im Lande verpflichtete, dem pädagogischen Personal seine Ressentiments als Unterrichtsstoff zu vermitteln. Was den Herausgeber der erwähnten Broschüre dazu qualifiziert, Lehrern etwas über die israelische Geschichte beizubringen, ist auf der Seite des Landesinstituts erschöpfend beschrieben. Dessen ungeachtet gab die Landesschulverwaltung ihm einen halben Tag lang Gelegenheit, langatmig jüdische Ansprüche auf das Land Israel zu dekonstruieren, den Unabhängigkeitskrieg als »Krieg gegen die palästinensische Zivilbevölkerung« zu dämonisieren, bei dem für die jüdischen Kämpfer »Rücksicht auf menschliches Leben keine Rolle« gespielt habe, und jegliche Aggression arabischer Staaten gegen Israel wie auch die Vertreibung hunderttausender ihrer jüdischen Bewohner zu leugnen, wobei er sich und seine Obsessionen hinter den jeweils passenden »neuen israelischen Historikern« zu verstecken suchte. Vorausgegangen war ein von der israelischen Botschaft organisierter Seminartag im Landesinstitut, der den Titel »Israel anders kennen lernen« trug. Da die dort vermittelten Inhalte als viel zu pro-israelisch empfunden wurden, setzte das Land die erwähnte »Folgeveranstaltung« an.
Mit der Verleihung eines nach Hannah Arendt benannten Preises hat sich Bremen jetzt für ein Handgeld von 7.500 Euro zusätzlich die Expertise eingekauft, der israelischen Partnerstadt Haifa den Status einer failed city zu attestieren, die bis heute an der unterstellten Vertreibung ihrer angestammten arabischen Bewohner kranke. Dabei lassen es sich die großzügigen Stifter aus Deutschland nicht nehmen, generös auch auf das »zivilgesellschaftliche Potenzial« in Israel hinzuweisen. Wer sich da zugute hält, dieses zu mobilisieren, und gegen wen, dürfte kein Geheimnis darstellen.
Dass die ganze Veranstaltung mit dem real existierenden jüdischen Staat und seiner Gesellschaft, seiner Entstehungsgeschichte, seinen Existenzbedingungen herzlich wenig zu tun hat, belegt das schlecht verhohlene Desinteresse am Verhältnis der Weiss’schen Erzählungen zur Wirklichkeit hinreichend. Was man sich in Deutschland und Bremen tatsächlich erhofft, wenn der »jungen Generation israelischer Historikerinnen« das Wort geredet wird, »die genau und vorurteilslos die Geschichte Israels und Palästinas« erforschten, könnte kaum jemand besser in Worte fassen als besagter Arn Strohmeyer, der Organisator der Bremer Boykottaktionen gegen israelische Waren. Sein folgendes »persönliches Wort« in dem ihm eigenen Jargon publizierte das Land Bremen im Jahr 2012 – in einem offiziellen Fortbildungsreader des Landesinstituts für Schule:
»Was Sie hier zu hören bekommen, ist für deutsche Ohren harter Tobak. Ich brauche hier – nach unserer Geschichte mit dem Nationalsozialismus – nicht darauf hinzuweisen, wie sensibel unser Verhältnis zu Juden und zu Israel ist. Israelische Historiker, und nur um die geht es hier, brauchen diese Rücksichten nicht zu nehmen, vielleicht andere, aber das ist dann nicht unser Problem.«
Das ist insgesamt zwar wenig logisch, aber sehr einleuchtend. Und auch das offizielle Bremen hat in diesem Jahr einmal mehr demonstriert, was »politisches Denken« vom Denken an und für sich unterscheidet.
Zum Foto: Yfaat Weiss während ihrer Dankesrede im Bremer Rathaus. Bremen, 7. Dezember 2012. © Torsten Schulz.
Du muss angemeldet sein, um einen Kommentar zu veröffentlichen.