Die Grätchenfrage

Kleiner Auszug aus Leon de Winters Beitrag „Das Geheimnis der jüdischen Intelligenz“, in deutscher Übersetzung erschienen im Kulturteil der Süddeutschen Zeitung vom Mittwoch:

Sarrazin starrte mich an, ausdruckslos, ohne eine Miene zu verziehen.

„Kann ich diese Heringsgräte von Ihnen haben?“

Ich schüttelte den Kopf: „Nein, das verstößt gegen alle Prinzipien. Verschenken geht nicht. Kein Jude gibt so einfach seine Heringsgräte her. Niemals. Ich könnte höchstens…“ ich zögerte.

„Was?“, fragte Dr. Sarrazin.

„Ich könnte sie Ihnen verkaufen“, schlug ich leise vor.

Sarrazin nickte, öffnete dann seine Aktentasche und zog ein klassisches Scheckheft hervor. Wieder zückte er seinen Füllfederhalter. Die Feder über dem aufgeschlagenen Scheckbuch, schaute er mich fragend an. „Wie viel?“

„Sie überfallen mich ein bisschen. Ich habe nie über den Preis meiner Heringsgräte nachgedacht“, stammelte ich.

„Ich möchte Ihre Heringsgräte kaufen. Sie ist mir einiges wert. Und zur Geheimhaltung habe ich mich doch gerade schon verpflichtet. Was hielten Sie von zehntausend Euro?“

Ich fühlte, wie mein Herz einen Hüpfer machte. Aber ich beherrschte mich.

„Hm, wenn Sie noch eine Null dranhängen…“

Dr. Sarrazin schrieb auf der Stelle einen Scheck über einhunderttausend Euro aus. Er reichte ihn mir. Ich schob ihm das Plastiktütchen mit der Heringsgräte hin. Er nahm es wie ein kostbares Juwel in die Hand.

„Das ist also das Geheimnis des jüdischen Intellekts“, flüsterte er, während er die Heringsgräte geradezu verliebt betrachtete. Doch gleich darauf funkelte er mich an: „Was bin ich doch für ein Idiot“, sagte er mit strenger Stimme. „Für hunderttausend Euro hätte ich mir gut fünfzigtausend Heringe kaufen können. Nein hunderttausend. Mitsamt Gräten.“

Ich lächelte: „Sie reagieren schnell, Dr. Sarrazin. Die Heringsgräte tut bei Ihnen sofort ihre Wirkung. So schnell ist noch keiner auf jüdisch klug geworden.“

Ein Lächeln huschte über sein Gesicht: „Verdammt, Sie haben recht.“

Er reichte mir die Hand.

„Ich bin jetzt so klug wie ein Jude“, sagte er stolz und steckte das Plastiktütchen mit der Heringsgräte in seine Innentasche, wo ich sie auch getragen hatte. „Es sind also nicht die Gene, sondern es ist die Heringsgräte.“

Ich nickte: „Absolut. Aber bitte kein Wort darüber.“

„Ich werde schweigen“, beteuerte er.

„Und falls je irgendwer das Thema jüdischer Intellekt anschneiden sollte, sagen Sie einfach: Die Juden haben ein Intelligenz-Gen. Denn wir wollen doch nicht, dass irgendwann womöglich alle Welt eine Heringsgräte bei sich trägt. Da verlieren wir doch unseren Klugheitsvorsprung.“

„Ein jüdisches Gen“, murmelte Sarrazin schmunzelnd und klopfte sich auf die Brust.

Wahrscheinlich kann man das Thema „Sarrazin und das jüdische Gen“ in seiner ganzen Absurdität nur so erfassen, wie der niederländische Schriftsteller (Foto) es getan hat: als Parabel nämlich, deren Kern übrigens an einen jüdischen Witz angelehnt ist. Da hat einer mit feinster Klinge gefochten. Ein veritabler Lichtblick in einer reichlich düsteren Debatte.