Unter Artenschutz

Was wird geschehen, wenn Terry Jones übermorgen – am neunten Jahrestag von Nine-Eleven – tatsächlich ein Exemplar des Korans in Flammen aufgehen lässt? Wird er damit den oft und viel beschworenen Flächenbrand im Nahen Osten auslösen? Werden Muslime in aller Welt mal wieder zum Djihad gegen den „großen Satan“ aufrufen? Und warum ist eigentlich immer nur davon die Rede, dass der Islam respektiert werden müsse, nie aber davon, wie es um den Respekt des Islams und der islamisch dominierten Staaten vor anderen Religionen (oder auch dem Atheismus) bestellt ist? Stefan Frank rückt in einem weiteren Gastbeitrag für Lizas Welt die Verhältnisse zurecht.


VON STEFAN FRANK*


„Der Pastor, vor dem die Nato zittert“, lautete der Titel eines Artikels auf Spiegel Online, bevor er durch die feinsinnigere Überschrift „Der Pastor, der mit dem Feuer spielt“ ersetzt wurde. Gemeint ist Pfarrer Terry Jones aus Florida, der einer Gemeinde angehört, die manche als fromm, evangelikal oder streng-religiös, andere als fundamentalistisch oder radikal bezeichnen würden. Warum aber muss das mächtigste Militärbündnis der Welt vor ihm Angst haben? Hat er Material für den Bau einer Atombombe und droht mit der Vernichtung eines ganzen Staates? Nein, nur ein Buch will er verbrennen. Dies aber, fürchten manche, könne zu gewaltsamen Protesten führen, die Menschenleben kosten könnten. Das muss wohl ein ganz besonderes Buch sein, wenn sein Vorhaben solche Wellen schlägt. Um welches mag es sich handeln? Das kann ja nur der Koran sein, nicht wahr? Am 11. September soll das Autodafé stattfinden. Aber um den Termin geht es nicht, es geht um das Buch.

US-Außenministerin Clinton nennt das Vorhaben „respektlos und schändlich“, David Petraeus, Oberbefehlshaber der Nato-Truppen in Afghanistan, warnt, die Aktion könne seine Soldaten gefährden. Spiegel Online-Reporter Yassin Musharbash spricht von einem „kalkulierten Akt der Provokation. Man könnte auch sagen: des Hasses.“ Angenommen, Musharbash hat recht. Wieso muss die Nato deshalb zittern? Provokationen sind nicht grundsätzlich verboten. Zu provozieren ist heute der Traum jedes Theaterregisseurs – und die Zuschauer zahlen erstaunlicherweise sogar dafür. Auch Hass ist erlaubt. Etliche Menschen, deren Lebensziel und -werk einzig und allein das Schüren von Hass ist, sind dafür mit Friedens- und Menschenrechtspreisen oder auch dem Bundesverdienstkreuz belohnt worden. Aber wenn es um den Islam geht, ist alles anders. Er steht unter strengerem Artenschutz als der Alpenstrandläufer, der Schwarzstirnwürger oder der Mornellregenpfeifer. Ja, man kann sogar sagen, er wird noch besser geschützt als die Sumpfohreule, die Raubseeschwalbe oder die Zwergdommel. Ganz zu schweigen von der Uferschnepfe und dem Tüpfelsumpfhuhn. Dabei ist der Islam noch nicht einmal besonders selten.

Gewiss: Bücherverbrennungen sind widerwärtig und barbarisch, unabhängig von der literarischen oder sonstigen Qualität des fraglichen Werks. Doch der Pressehype zeigt einmal mehr die Bigotterie, die am Werk ist, wenn es um den Respekt vor anderen Religionen geht. Es ist das eine, wenn Petraeus sich Sorgen macht, dass Menschen versehrt oder getötet werden könnten (wozu er ja durchaus Gründe hat). Etwas ganz anderes ist es, wenn Terry Jones von Journalisten, Politikern oder Kirchenführern getadelt wird, die, wenn es um Respekt und Islam geht, immer nur daran denken, dass der Islam respektiert werden müsse – nie aber daran, wie es um den Respekt des Islams und der islamisch dominierten Staaten vor anderen Religionen (oder auch dem Atheismus) bestellt ist.

Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD), seit Jahrhunderten die Trutzburg der Heuchelei, hat gar eine Presseerklärung abgegeben. Heiliger Strohsack! Hat sie wirklich keine anderen Probleme? Wann hat sich die EKD das letzte Mal um ihre Glaubensbrüder, die in islamischen Ländern drangsalierten Christen gekümmert? Länder, in denen nicht bloß Bücher, sondern Menschen Opfer religiös motivierter Gewalt werden oder in permanenter Angst vor ihr leben müssen: Sei es im Gazastreifen, in Saudi-Arabien, in Ägypten, in Pakistan, in der Türkei oder auf den Malediven, dem „Urlaubsparadies“. All die Empörten und Entrüsteten möchte man fragen: Wo war ihre Empörung und Entrüstung, als US-Soldaten in Afghanistan auf Befehl von oben Bibeln verbrannten – aus Angst, wie es heißt, dass deren Existenz in dem Land „zu Gewalt führen könnte“.

Merkt jemand was? In dem einen Fall darf man ein als heilig geltendes Buch nicht verbrennen, um die „muslimische Welt“ nicht zu provozieren, im anderen Fall muss man es. Damit ist ersichtlich, dass es nicht um ein Prinzip geht (die mögliche Verletzung religiöser Gefühle), sondern allein um Macht, die Macht der islamischen Eiferer. Aber wer glaubt, dass es reicht, dieses oder jenes zu tun oder zu unterlassen, um sie zu befrieden, der spinnt. Das ist, als würde man die Fußballspieler oder den Schiedsrichter für Hooliganrandale nach dem Spiel verantwortlich machen. Hooligans sind aber immer wütend und gewalttätig. Wer versucht, sie zu beschwichtigen, indem er ihnen vorauseilenden Gehorsam erweist, bestärkt sie in ihrem Tun: Er zeigt ihnen nur, dass sich ihr Verhalten auf eine für sie kalkulierbare Weise auszahlt.

Was wäre, wenn die islamischen Länder moderne, zivilisierte Gesellschaften hätten? Auch dann gäbe es gewiss Protest gegen eine öffentlich angekündigte Koranverbrennung – aber er hätte eher die Form von friedlichen Demonstrationen, mehr oder weniger polemischen Zeitungsartikeln, Leserbriefen, satirischen YouTube-Clips usw. Niemand würde den Ausbruch von Gewalt fürchten – oder ihn gar für unvermeidlich halten.

Doch wer marodiert, hat Recht, scheint die Devise zu lauten. Denn es gelten die Regeln der so genannten Mediengesellschaft. Warum ist die geplante Verbrennung einiger Exemplare des Korans eine Meldung, die sofort um die Welt geht, die Missachtung der Rechte Andersgläubiger in islamischen Ländern – bis hin zu ihrer Ermordung – aber so gut wie nie ein Nachrichtenthema? Aus zwei Gründen: erstens, weil das eine nur sehr selten passiert, das andere jeden Tag. Die Presse interessiert sich mehr für eine außergewöhnliche Kleinigkeit als für den täglichen Wahnsinn. Zweitens, weil es auf der Welt nur wenige Christen oder Mitglieder anderer in islamischen Ländern verfolgten Glaubensgemeinschaften gibt, die auf ihre Unterdrückung oder die Schmähung ihrer Religion – sei es durch Bibelverbrennungen oder durch Flüche, wie sie jeden Freitag in Moscheen überall auf der Welt gegen die „Ungläubigen“ ausgestoßen werden – mit Gewalt reagieren würden. Das ist undenkbar.

Dieser Pazifismus rentiert sich aber für sie überhaupt nicht: In unserer Welt ist es nicht die Sache der objektiv am meisten Unterdrückten und Leidenden, die es am meisten wert ist, unser Verständnis und unser Mitgefühl zu gewinnen – es ist die Sache derer, die am herrischsten auftreten und die größte Zahl von Menschen umbringen. Die Medien stellen dabei die beabsichtigte Wirkung erst her: Ohne Fernsehen, Radio und Zeitungen würden sich Bombenanschläge nicht lohnen. Die Journalisten sind die unfreiwilligen Komplizen des Terrorismus, sie machen ihn erst attraktiv. Doch statt diese kaum zu bestreitende Tatsache zu reflektieren, machen sich manche von ihnen gar zu inoffiziellen Pressesprechern der Terroristen, indem sie sich strebend bemühen, irgendwelche anderen hinter dem islamischen Terrorismus steckenden Motive zu finden, andere als die wahren, offensichtlichen, immer wieder von ihnen selbst erklärten und ganz und gar verabscheuungswürdigen. Es ist immer wieder der gleiche Gestus: „Schaut auf diese Menschen, wie sie uns verfluchen, Gebäude anzünden, sich bewaffnen und morden. Was mag man den Armen nur getan haben, das sie so zornig macht?“ Gedanken von Leuten, die sich täglich den Kopf darüber zerbrechen, wie man denen, die uns umbringen wollen, am besten eine Brücke bauen könnte.

Bevor die Bauarbeiten beginnen, müsste man den Damen und Herren Islamisten erst einmal etwas erklären, nämlich das Prinzip des free speech. Vielleicht kennen sie das gar nicht? Vielleicht beruhen ja all die Scherereien, die wir mit dem Islamismus haben, auf einem Missverständnis? Niemand kann schließlich alles wissen, nicht wahr? Wer weiß, womöglich hat man in Kairo und Karatschi noch nichts davon gehört, dass es in den USA seit nunmehr 219 Jahren ein garantiertes Recht auf Redefreiheit gibt. Dass man dort also keine Genehmigung von der Obrigkeit einzuholen braucht, wenn man seine Meinung äußern möchte – und der Staat folglich auch nicht für das Handeln seiner Bürger haftbar gemacht werden kann. Wenn die Kommentatorin von tagesschau.de Recht hat und Jones tatsächlich „im Ausland als Symbol für amerikanischen Anti-Islamismus präsentiert“ wird, dann muss man „dem Ausland“ sagen, dass in den USA auch Islamisten demonstrieren und im Internet zum Hass auf Amerika aufrufen dürfen. Sind die USA deshalb islamistisch? Oder sind sie antichristlich, weil es dort Satanisten und Black-Metal-Konzerte gibt? Und wenn Anarchisten in San Francisco Stars-and-Stripes-Fahnen verbrennen – ist das dann nicht ein Symbol des amerikanischen Antiamerikanismus? Zu verrückt, diese Idee? Wenn es um den Islam geht, ist das anders, dann gilt: mitgefangen, mitgehangen.

Vielleicht wird es wirklich überall auf der Welt Ausschreitungen geben, wenn Terry Jones am 11. September seine Korane verbrennt. Aber ist das seine Schuld? Sind für Gewalt nicht diejenigen verantwortlich, die sie anwenden?

Wir kennen die Bilder von Horden junger Männer, die Nachrichtensprecher in einer anderen Zeit und an einem anderen Ort als „Halbstarke“ bezeichnet hätten. Kann man mit ihnen reden? Will man das? Viele sind unverbesserliche Antisemiten und Djihadisten, mit denen zu diskutieren keinen größeren Erfolg verspricht als der Versuch, einen Veganer von guter Küche zu überzeugen. Andererseits: Wenn wir an das Gute im Menschen glauben – wie schwer das auch immer sein mag –, warum sollten wir dann nicht zugestehen, dass es auch in einem tobenden Mob ein paar Menschen geben mag, die nur durch widrige Umstände in schlechte Gesellschaft geraten sind? Die die Prinzipien von Religions- und Meinungsfreiheit verstehen und gutheißen würden, wenn sie ihnen jemand erklärte?

Das müsste man dann aber auch tun. Wo bleibt der „Dialog“, der seit über 30 Jahren eingefordert wird? Warum findet er nicht statt? Die Antwort ist simpel: Es ist schwierig, einen Dialog mit jemandem zu führen, der sich die Ohren zuhält. Es müsste ja auch ein Dialog sein, der nicht auf der Prämisse aufbaut, dass Menschenrechte Ansichtssache seien und der Djihadist vielleicht auch gute Argumente haben könnte. Altenpfleger lernen in ihrer Ausbildung die validierende Gesprächsführung. Die würde man aber wohl kaum in der Drogentherapie anwenden: dem Heroinabhängigen sagen, er solle ruhig weiter spritzen, eigentlich sei das gar nicht so schlimm, die Vorurteile gegenüber Heroin („Toxophobie“) seien das eigentliche Problem.

Der „Dialog mit der islamischen Welt“ müsste darin bestehen, die gute Nachricht zu verbreiten, dass nicht religiöse Diktaturen, sondern nur säkulare Gesellschaften zum Glück führen, und ein Leben ohne Djihad ein besseres ist. Es wäre ein Krieg der Ideen. Er findet auch schon statt, wird aber bislang nur von der anderen Seite geführt, mit dem bekannten Ergebnis: Dort, wo man Lesen und Schreiben nicht in einer staatlichen Schule beigebracht bekommt, sondern nur in einer Madrasa oder gar nicht, gedeiht eine Einstellung, auf die das Wort „totalitär“ in höchstem Maße zutrifft: Djihadisten, die vielleicht ein oder zwei Prozent der Weltbevölkerung ausmachen, beanspruchen das Recht, bereits jetzt, noch bevor sie die ganze Welt zu einem Dar-al-Islam (Haus der Unterwerfung) gemacht haben, den Rest der Menschheit zu beaufsichtigen und zu züchtigen, wann immer auch nur ein einziger von sieben Milliarden Menschen etwas tut, was ihnen nicht in ihren bekackten Kram passt.

* Stefan Frank ist freier Journalist. Auf seiner Homepage ist eine Auswahl seiner Texte und Interviews zu finden.

Zum Foto: Vor seiner Abreise nach Mekka herzt Mahmud Ahmadinedjad sein Lieblingsbuch. Teheran, September 2008.