Dr. Michal Rachel Suissa (Foto) ist eine jüdische Amazigh (Berberin) und lehrt Medizinische Chemie an der Universität Oslo. 1963 floh sie im Alter von sechs Jahren von Marokko nach Frankreich, später emigrierte sie nach Israel. Seit 1992 lebt sie in Norwegen, veröffentlicht regelmäßig Beiträge über Minderheiten im Nahen Osten und den Gebrauch der Religion als Waffe gegen Juden und Minderheiten. Sie leitet das Senter mot antisemittisme (Zentrum gegen Antisemitismus) und ist Redakteurin der Vierteljahresschrift SMA-Info über Israel und Antisemitismus. Mit ihr sprach Stefan Frank über Antisemitismus und Rassismus in Norwegen nach den Terrorattentaten von Anders Breivik.
INTERVIEW: STEFAN FRANK
Gibt es in Norwegen ein Rassismusproblem?
Michal Rachel Suissa: Rassistische oder fremdenfeindliche Parteien gibt es in Norwegen nicht. Es gibt individuelle Fälle von rassistischem Verhalten, einige rassistische Kommentare in den Medien, von Einzelnen verübte rassistische Gewalt – und es hat sogar in den letzten zehn Jahren mehrere Morde gegeben. Aber all das hat keinen organisierten Charakter und sollte nicht als ein besonderes norwegisches Phänomen betrachtet werden.
Welche Beispiele für rassistische Gewalt können Sie nennen?
Der in Indien geborene Norweger Arve Beheim Karlsen wurde am 23. April 1999 ertrunken in einem Fluss gefunden, nachdem er von einer Gruppe junger Norweger gejagt worden war. Die Angeklagten in dem daraufhin eingeleiteten Verfahren wurden von Knut Storberget verteidigt, unserem derzeitigen Justizminister. Sie wurden nach dem Rassismusparagraphen angeklagt, doch obwohl ein Zeuge aussagte, dass sie „Tötet den Nigger!“ gerufen hätten, als sie das Opfer den Fluss entlang jagten, wurden sie lediglich wegen Körperverletzung und Bedrohung verurteilt. Weltweit bekannt wurde der Mord an dem 15jährigen, aus einer Einwandererfamilie stammenden Benjamin Hermansen Labaran; er wurde am 26. Januar 2001 in Oslo erstochen. Drei Mitglieder einer örtlichen Neonazigruppe wurden damals verurteilt. Am 23. August 2008 wurde der aus Somalia stammende Taxifahrer Mahmed Jamal Shirwac mit mehreren Schüssen getötet. Im September 2008 wurde ein 48 Jahre alter Kurde in Oslo brutal zusammengeschlagen. Ein vieldiskutierter Fall ereignete sich im Sommer 2007. Der in Somalia geborene Ali Haji Mohamed Farah wurde von einem Mann aus Ghana niedergeschlagen und schwer verletzt. Die Rettungssanitäter ließen den Verletzten liegen, statt ihn ins Krankenhaus zu bringen. Es wurde darüber diskutiert, ob sie aus rassistischen Gründen so gehandelt haben. Vor Gericht wurden sie freigesprochen. Obwohl all diese Fälle die Existenz von Rassismus belegen, sehe ich keine Basis für die Behauptung, dass die norwegische Gesellschaft besonders rassistisch wäre. Im Gegenteil fällt im Vergleich mit anderen Ländern eher das niedrige Niveau solchen Verhaltens auf.
In den neunziger Jahren wurden in Norwegen zahlreiche Kirchen niedergebrannt. Kann man von religiös motivierter Gewalt sprechen?
Nach meinem Wissen wurden all diese Taten von Leuten aus dem satanistischen oder „Black Metal“-Milieu verübt. Die meisten dieser Fälle wurden aufgeklärt und die Täter bestraft. Einen Zusammenhang mit dem jüngsten Terror sehe ich nicht.
Gab es vor dem Massaker von Utøya eine Debatte über muslimische Immigration?
Einwanderung ist ein Thema, das in Norwegen wie in anderen Ländern seit Jahren diskutiert wird, manchmal wird dabei auch die muslimische Einwanderung angesprochen. Das hat aber vor allem etwas mit der als niedrig wahrgenommenen Integration einiger Muslime, insbesondere der Frauen, zu tun. Sogar Führer der muslimischen Gemeinde selbst haben kritische Kommentare über die unter Muslimen verbreiteten Praktiken der Eheschließung gemacht, über Phänomene wie Cousinenehe, Genitalverstümmelung und Ehrenmord. Darin unterscheidet sich Norwegen aber nicht von anderen Ländern. Aus eigener Erfahrung bin ich überzeugt davon, dass die norwegische Gesellschaft nicht auf ethnische „Reinheit“ aus ist, sondern nach Wegen sucht, eine heterogene, multikulturelle Gemeinschaft zu sein, aber auf eine Art, die sicherstellt, dass hart erkämpfte Rechte und Werte erhalten bleiben, etwa die Gleichberechtigung von Frauen und Schwulen oder die Freiheit zur Kritik. Mit einigen Vertretern des Islam gerät man da schnell in verbale Konfrontation, und die Gefahr, von den Medien als „rassistisch“ oder „islamophob“ tituliert zu werden, ist groß. Ich habe noch nie ähnliche Debatten mit Hindus, Buddhisten, Sikhs oder anderen religiösen Gruppen erlebt. Auch offene Drohungen von fundamentalistischen Muslimen gehören in dieses Bild.
Ein Problem, über das nicht gesprochen wird, ist, dass Norwegen praktisch keine wirklich freien Massenmedien hat, da sie alle finanziell von der Regierung unterstützt werden. Darum gibt es eine zu beobachtende Tendenz, die politisch korrekten Ansichten wiederzugeben. Und da es nicht politisch korrekt ist, bestimmte Aspekte des Islam zu kritisieren, wird garantiert jeder als Rassist bezeichnet, der einfache Fragen stellt wie: „Wie lange noch können wir darüber hinwegsehen, dass Mekka immer noch eine für Nichtmuslime verbotene Stadt ist, während Moscheen in Norwegen wie Pilze aus dem Boden schießen?“ In Norwegen gibt es, wie überhaupt in Europa, ein Verbot, die Wahrheit über diese Dinge zu sagen, und das frustriert viele Leute.
Manche Leute sagen, der Antisemitismus in Norwegen sei extrem, selbst nach europäischen Maßstäben. Stimmt das?
Nein. Was es gibt, ist eine generelle Gleichschaltung der öffentlichen Information und einen Mangel an alternativen Kanälen, was in einer kleinen Sprachgemeinschaft wie der norwegischen einen großen Einfluss auf die öffentliche Meinung hat. Es gibt aber keinen Beweis dafür, dass der Antisemitismus extremer ist als anderswo. Allerdings zeigt ein von den Osloer Behörden im Juni veröffentlichter Bericht die Existenz von Antisemitismus unter Schülern. Unser Informationscenter sagt das schon seit Jahren, aber die norwegischen Behörden versuchten es bislang herunterzuspielen, zu ignorieren oder auf andere Weise aus der öffentlichen Debatte herauszuhalten. Die Schüler berichteten unter anderem, dass das Wort „Jude“ an norwegischen Schulen wieder zu einem normalen Schimpfwort geworden ist und dass der meiste Judenhass von muslimischen Schülern kommt. Es ist aber wichtig zu betonen, dass der Antisemitismus in Norwegen keine Folge der muslimischen Einwanderung ist. Antisemitische Einstellungen, ob offen oder verdeckt, werden von den norwegischen Mainstreammedien wie der Rundfunkanstalt NRK und Oslos größter Zeitung Aftenposten geschaffen und erhalten. Viele Politiker und Journalisten machen Karriere, indem sie bei jeder Gelegenheit Israel geißeln. Dies geht einher mit einer tendenziösen, negativen Beschreibung von Israels norwegischen Unterstützern.
Den radikalen muslimischen Immigranten in Norwegen ist es natürlich nicht entgangen, dass antisemitische oder sogar rassistische Äußerungen oft auf große Unterstützung durch die norwegischen Medien und einige Politiker treffen. An einer vom norwegischen Finanzminister und anderen wichtigen Linken geführten Demonstration gegen die israelische Militäroperation im Gazastreifen, die in Oslo stattfand, nahmen auch viele junge Araber teil und skandierten „Itbah al yahud!“ – „Tötet die Juden!“ Das hat sich nicht etwa während des Holocaust zugetragen, sondern im Januar 2009, in den Straßen von Oslo. Norwegische und muslimische Kinder sahen, wie ihre Staatsmänner Hand in Hand mit Islamisten demonstrierten. Das beeinflusst natürlich ihre Haltung, wie der eben erwähnte Bericht über den Antisemitismus an Schulen zeigt. Die Verantwortung für den Judenhass in Norwegen tragen die Bewusstseinsdesigner, die rücksichtslos die Medien und ihre politischen Plattformen dazu benutzen, die Realität zu verzerren und die Juden als das gefährlichste Volk der Welt darzustellen. In den Worten des ehemaligen Ministerpräsidenten und jetzigen Generalsekretärs des Europarats, Thorbjørn Jagland: „Wenn es etwas gibt, das den Weltfrieden bedroht, dann ist es die israelische Besatzung.“ Solche Statements sind fraglos eine Quelle des Judenhasses in Norwegen.
Welche Haltung hat die norwegische Regierung zu Israel?
Sie hat im Laufe der Geschichte eine 180-Grad-Wende vollzogen. Während Norwegen einst ein begeisterter Unterstützer des jungen jüdischen Staates war und ein formal neutraler Friedensmakler während der arabisch-israelischen Verhandlungen, hat es unter seiner jetzigen Regierung einen entscheidenden Schritt getan, sich politisch mit der palästinensischen Seite zu verbünden und seinen ehemaligen Freund zurückzulassen. Das ist ein weiterer Aspekt, der von den norwegischen Medien heruntergespielt wird. Einer der bedeutendsten Befürworter dieser Politik ist Außenminister Gahr Støre. Über seine Rolle in der Außenpolitik gibt es in Norwegen keine nennenswerte Debatte. Die Norweger fühlen sich im Großen und Ganzen wohl in ihrer wachsenden Wohlstandsblase, isoliert von den Übeln der Welt, und sind zufrieden damit, dass ihr Land unter den Ländern mit dem höchsten Lebensstandard auf Platz eins rangiert.
Was können Sie über Gahr Støre sagen?
Er kam ins Amt, nachdem die Führer der Arbeitspartei lange nach einem Kandidaten gesucht hatten. Als ein früherer Karrierebürokrat musste er sich auch gegenüber den radikalen Kräften seiner neuen Partei als würdig erweisen. Das tat er unter anderem, indem er klarstellte, was Norwegens Kurs im Hinblick auf die Konfliktparteien des Nahen Osten ist. Er war der erste westliche Staatsmann, der politische und wirtschaftliche Beziehungen zu Organisationen wie der Hamas, der Muslimbruderschaft, den Taliban und, kürzlich, zu der somalischen Terrororganisation al-Shabaab geknüpft hat. Sein wichtigster Slogan ist „Dialog“.
Was bedeutet das Massaker von Utøya für Norwegens Juden?
Die meisten norwegischen Juden versuchen, ihre jüdische Identität zu verbergen. Wir haben drei sehr kleine Gemeinden, die ein paar hundert gläubige Juden repräsentieren. Bis jetzt herrscht Schweigen, da die meisten Juden instinktiv mit Angst reagieren – sie fürchten, die nächsten Sündenböcke zu werden. Ich weiß das mit Sicherheit, weil einige es mir in privaten Gesprächen gesagt haben. Die Medien beeilten sich mit Schlagzeilen über die Behauptung, der Mörder sei „proisraelisch“ gewesen. Ich sehe das als Teil der massiven Medienpropaganda, um die „rechte“ Opposition zum Schweigen zu bringen, die Israel im Allgemeinen positiv gegenübersteht.
Fürchten Sie, dass der Antisemitismus wachsen wird?
Ich fürchte nicht, dass die Gewalttaten an sich den Antisemitismus in Norwegen steigern werden und sehe im Moment auch keine Reaktionen auf das Massaker und den Bombenanschlag, die ich als antijüdisch oder antiisraelisch bezeichnen würde. Mich beunruhigt jedoch, dass die Hexenjagd, die gegen die politische Opposition von den meist linken Medien betrieben wird, es noch schwerer machen wird, öffentlich Solidarität mit Israel zu bekunden. Wir haben Beispiele antiisraelischer Hetze kurz vor dem terroristischen Massaker gesehen, unter anderem vom Außenminister. Dass die sich als unerschütterliche Wahrheit festsetzen könnte, vor allem in den Köpfen der historisch weniger gut informierten jüngeren Generation, ängstigt mich sehr. Als im Juni der Bericht über den Antisemitismus erschienen ist und die örtliche jüdische Gemeinde ein internationales Seminar zu dem Thema abgehalten hat, war der Außenminister so mutig, die Verantwortung von Politikern einzuräumen. Er sagte: „Ein Jargon von Slang-Begriffen, die unbeabsichtigte schwerwiegende Konsequenzen haben können, kann leicht Wurzeln schlagen. Diejenigen von uns, die politische Verantwortung tragen, müssen darüber reden und solchen Begriffen entgegenwirken.“ Leider hatte er diesen guten Ratschlag vergessen, als er an dem Tag vor dem Massaker einem jubelnden Publikum aus jungen Parteifreunden unmissverständliche Anti-Israel-Parolen zurief: „Die Palästinenser müssen ihren eigenen Staat haben. Die Besatzung muss enden, die Mauer muss niedergerissen werden, und all das muss jetzt passieren!“
Eine längerfristige negative Konsequenz der brutalen Terrorakte ist eine Einschränkung der Meinungsfreiheit. Im Augenblick gibt es eine verleumderische Medienkampagne gegen Christen, die in einigen Fällen auf unheimliche Weise an Elemente des klassischen Antisemitismus erinnert. Viele Leute haben Angst, mit dem Massenmörder in Verbindung gebracht zu werden, den die Medien als „konservativen christlichen Fundamentalisten“ bezeichnen. Dieses Label reicht aus, um die Hälfte der norwegischen Bevölkerung in Lähmung zu versetzen, eben jenen Teil, in dem die meisten Unterstützer Israels und der Juden zu finden sind. Diese Hexenjagd, die sich in rasanter Geschwindigkeit ausbreitet, hat bereits viele konservative Blogger in diesem Land paralysiert, und ich fürchte, dass andere ebenfalls darunter leiden werden, bevor die Medien dann am Ende zum klassischen Kompromiss gelangen und die Juden beschuldigen.
Eine niederländische Übersetzung dieses Beitrags findet sich auf dem Webportal Amsterdam Post: „De meeste Noorse Joden reageren met angst“. Eine englische Fassung ist bei Pajamas Media erschienen.
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