Deutsche Seelenwanderungen

Henryk M. Broder über Edith Lutz aus Sötenich in der Eifel, die Initiatorin der von der israelischen Marine vorzeitig beendeten Aktion Irene:

[Sie ist] also nicht nur „deutsche Jüdin“, sondern auch Judaistin, eine Fachfrau fürs angewandte Judentum. Mehr Kompetenz, Israel zu kritisieren, konnte es nicht geben. Ich war beeindruckt, aber nicht überzeugt. Irgendwas störte mich, es roch nach Felicitas Krull. Der manische Blick, der missionarische Tonfall. Andererseits: Auch bei Juden ist jeder Jeck anders. Ich fragte bei den beiden jüdischen Gemeinden in Köln nach, niemand dort hatte je etwas von einer Frau Edith Lutz gehört. Mit Googles Hilfe fand ich den Hinweis auf ein nicht mehr lieferbares Buch, das sie geschrieben hatte (über Heinrich Heine und den „Verein für Kultur und Wissenschaft der Juden“) und einen Artikel in der „Rheinischen Post“, in dem Frau Lutz als „eine Powerfrau“ vorgestellt wurde: „Vier Kinder, drei Studienabschlüsse, eine Promotion. Nun kämpft die gebürtige Leverkusenerin für den Frieden in Gaza.“ Nicht schlecht, dachte ich, von Heine nach Gaza, manche kommen in ihrem Leben nicht mal von Bacharach nach Königswinter.

Wie es aussieht, hat Edith Lutz ihre Konversion zum Judentum also gewissermaßen rein privat vollzogen. Dass sie medial dennoch nahezu uneingeschränkt als explizit jüdische Kronzeugin für die Anklage gegen Israel frequentiert wird, ist nur dadurch möglich, dass man hierzulande weiterhin gerne selbst bestimmt, wer Jude ist, und sich da nicht von irgendeinem Rabbi reinreden lässt. Schon gar nicht dann, wenn diese (vermeintlich) jüdische Stimme das verlautbart, was man in Deutschland mehrheitlich hören will. Umgekehrt stellt sich die Frage, was Lutz bewogen haben mag, zum Judentum überzutreten respektive sich diesen Übertritt einzubilden. Im Ergebnis bleibt jedenfalls festzuhalten: Sie gefällt sich sehr in ihrer Rolle als jüdische Israelkritikerin und weist etwaige Prüfungen auf einen Etikettenschwindel brüsk zurück. Nicht minder rabiat sind ihre verbalen Angriffe auf Israel, dem sie de facto Nazimethoden vorwirft, etwa, wenn sie sich über einen Zählappell im Gefängnis erregt oder die Ausweisung aus dem jüdischen Staat zuzüglich künftigem Einreiseverbot als „Deportation“ bezeichnet.

Der vor 13 Jahren verstorbene Publizist Eike Geisel hat bereits 1992 in seinem Buch Die Banalität der Guten analysiert, warum ausgerechnet Deutsche so zahlreich zum Judentum konvertieren (oder zumindest behaupten, es zu tun). Sein Fazit: Neben religiös-identitären Gründen und der naiven Schwärmerei für das Leben in den Kibbuzim spielt eine besonders krude Art von „Vergangenheitsbewältigung“ eine große Rolle. In jedem Fall führe fast jeder deutsche Konvertit „wie unter Zwang seine höheren Beweggründe ins Feld“. Worin das bisweilen resultieren kann, hat Geisel an mehreren Beispielen gezeigt, von denen einige – weil das Buch vergriffen ist – hier dokumentiert werden sollen.

VON EIKE GEISEL

Protokoll einer Verwandlung: Ende Januar 1984 betritt Sabine S. Gelhaar das Martin-Buber-Institut für Judaistik der Universität Köln. Sie hatte hier Judaistik im Nebenfach studiert. Mit gezogener Pistole stürmt sie in einen der Seminarräume, in denen Professor Hermann Greive, ein bekannter Judaist, gerade einem Dutzend Studenten Hebräisch-Unterricht erteilt. Sie schießt aus nächster Nähe in den Kopf des Professors. Greive stirbt am nächsten Tag. Ein anderer Professor, der herbeieilt, wird durch einen Steckschuss verletzt. Die Täterin wird schließlich überwältigt und bekennt sich vor der Polizei zu der Tat: „Ursprünglich wollte ich vier umbringen, aber leider waren es nur zwei.“

Sabine S. Gelhaar war 1979 zum Judentum übergetreten und nannte sich mit zweitem Vornamen Sara. Geboren als Kind evangelischer Christen in der DDR, wuchs sie in der Bundesrepublik auf, machte ein exzellentes Abitur und immatrikulierte sich für die Fächer Philosophie und Geschichte. Mitte 1975 lernte sie an der Universität einen emigrierten polnischen Juden kennen, der dort als wissenschaftlicher Assistent arbeitete. Sie drängte sich ihm auf, er wollte nichts von ihr wissen. Damals begann sie, sich als Jüdin zu betrachten. Zwei Jahre später zog ein anderer Jude, ein Student, ihr Interesse auf sich. Sie erklärte ihm, sie sei Jüdin, zeigte Schabbathleuchter aus angeblichem Familienbesitz vor und beklagte sich bitter, die Synagogengemeinde registriere sie wegen fehlender Papiere nicht als Mitglied.

Fünf Jahre hindurch nahm sie regelmäßig an den Seminaren des Martin-Buber-Instituts teil. Wie ähnliche Einrichtungen an anderen Universitäten oder wie selbst die Jüdische Hochschule in Heidelberg hatte dieses Institut kaum jüdische Studenten. Während Sabine S. Gelhaar bei ihrer wissenschaftlichen Arbeit in einem Archiv der Universität eine stille, unauffällige Erscheinung blieb, trat sie im Judaistik-Institut um so demonstrativer auf, immer mit dem Hinweis, sie sei Jüdin. Als Jüdin verlangte sie, bevorzugt behandelt zu werden, und sie protestierte dagegen, dass sich hier Nichtjuden mit jüdischem Schrifttum befassten. Als ein Institutsmitglied sie einmal mit dem Hinweis zurechtwies, an der Universität werde Wissenschaft betrieben und keine Religion praktiziert, außerdem sei sie gar keine Jüdin, brach erstmals ihr mühsam ausgehaltenes Doppelgängertum zusammen. Sie schrie, dass sie alle „Gojim“, also die Nichtjuden, hasse.

Während sie einerseits, von einem Hochbegabten-Stipendium unterstützt, eine wissenschaftliche Arbeit im Fach Judaistik beendete, gewannen andererseits ihre auf das Institut bezogenen Wahnvorstellungen an Macht. Aus dem Martin-Buber-Institut wurde für sie ein Martin-Luther-Institut. Hatte sie vorher nur vegetarisch gegessen und das „koscher“ genannt, so berief sie sich nun in allen Dingen des täglichen Lebens auf die Halacha, auf die Vorschriften des jüdischen Traditionsgesetzes. Mit dem Rabbiner, bei dem sie konvertiert war, überwarf sie sich. Er hätte sie als geborene Jüdin akzeptieren müssen.

Zunehmend ersetzte sie die realen Erfahrungen mit der Außenwelt durch Halluzinationen. Sie fühlte sich „computergesteuert“, von Doppelgängern ihrer Bekannten und vor allem von den nichtjüdischen Professoren des Judaistik-Instituts bedroht. Sie hielt es nun für ihre zwingende Pflicht, so ein Eintrag in ihrem Tagebuch, „die bundesdeutsche Öffentlichkeit über die Machenschaften dieser religiös-weltanschaulich verbrämten Gruppierung aufzuklären. Für den Fall, dass meine Forderungen unerfüllt bleiben, habe ich der Gruppierung einen Vergeltungsschlag auf ihr repräsentatives Zentrum, das Martin-Buber-Institut an der Universität Köln, angekündigt. Ich werde dort mehrere der Gruppe zugehörige Mitglieder mit Vorderladerpistolen erschießen, damit durch diese exemplarische Tat die Gerichte gezwungen sind, sich um die Aufklärung der Vorfälle zu bemühen.“

Auf die Straße ging sie nun häufig mit Hut und Gebetsschal, den Insignien des orthodoxen männlichen Juden. Im Herbst 1983 beschaffte sie sich mehrere alte Pistolen, wurde Mitglied eines Schützenvereins und absolvierte sogar einen Sprengkursus. Wenige Monate später betrat sie das Martin-Buber-Institut zum letzten Mal.

Die Schüsse erregten damals großes Aufsehen. Doch das publizistische Interesse war sich der Motive seiner eigenen Heftigkeit kaum bewusst. Dass die Täterin zum Judentum konvertiert war und sich diesem mit derart paranoider Energie verschrieb, dass sie der fantasierten Bedrohung durch einen nichtjüdischen Professor schließlich mit der Waffe entgegentrat – das ließ sich als besonders reizvoller Amoklauf einer Geisteskranken darstellen. Damit war der unangenehme Gedanke aus der Welt, dass mit dieser Tat eine wahnhafte gesellschaftliche Normalität ihre logische Zuspitzung und ihren extremen Ausdruck gefunden hatte.

Sabine „Sara“ Gelhaar hatte mit der im politischen Raum gespielten Rolle des eingebildeten Juden persönlich ernst gemacht. Das war ihr Fehler. Wie die kollektive, so endete auch ihre individuelle Seelenwanderung in einer Karikatur: Als wandelndes Zerrbild des Juden wurde sie zur Täterin. Auf ihre eigene Weise bringen Israelis zum Ausdruck, dass sie Konvertiten für Menschen mit Persönlichkeitsstörungen halten; sie erklären sie einfach für verrückt. Nachgerade verwundert es nicht, dass bei Konversionen in Israel – der Voraussetzung für die Einbürgerung – die Deutschen an der Spitze lagen. Nicht in absoluten Zahlen, sondern im Verhältnis zur Einwohnerzahl des Herkunftslandes. Die Motive, nach Israel zu gehen und Israeli zu werden, sind vielfältig und reichen noch heute von der Begeisterung fürs kollektive und ländliche Leben im Kibbuz bis zu religiösen Begründungen. Doch zusätzlich wird fast jeder deutsche Neuisraeli wie unter Zwang seine höheren Beweggründe ins Feld führen.

Vor 50 Jahren, als der jüdische Flüchtlingsstrom aus Deutschland nach Palästina anschwoll, galt den Immigranten die spöttische Frage: „Kommen Sie aus Zionismus oder aus Deutschland?“ Bei der Invasion der Konvertiten konnte man die Frage reduzieren auf: „Kommen Sie aus Deutschland?“ Mit der bejahenden Auskunft versehen, verstanden Israelis auch die gelegentliche Wandlung von eingefleischten Pazifisten, etwa Mitgliedern der „Aktion Sühnezeichen“, die nun in der israelischen Armee für die deutsche Geschichte gegen die Palästinenser sühnten. Dass sie dabei auch von der besonderen Verantwortung für die Juden umgetrieben wurden, welche die Deutschen daraus ableiten, dass sie sie vordem umgebracht haben, zeigte eine 1986 mehrfach veröffentlichte Gewissenserleichterung eines Konvertiten in Israel.

Ein Gershon von Schwartze, der bei seinem Übertritt zum Judentum weder auf das Monokel im Namen noch auf eine neuere deutsche Eigenart, die Betroffenheit, verzichten wollte, schrieb über die Motive seiner Konversion: „Als ich 18 Jahre alt war, begann ich, tief über den Holocaust und die jüdische Frage nachzudenken. (…) Ich begann, Hebräisch zu lernen und fühlte mich immer stärker betroffen. (…) Ich konnte mit der kürzlichen Vergangenheit Deutschlands, mit Auschwitz, nicht leben. Ich ging auf die Suche nach mir selbst, nach einer neuen Ideologie und glaubte, sie im Judentum gefunden zu haben.“ Als er sich schließlich wirklich selbst während des Libanon-Kriegs gefunden hatte, entdeckte er den Bewährungshelfer in sich: „Meine schlimmste Erfahrung machte ich, als ich Wächter im ersten Konzentrationslager der jüdischen Geschichte war, in Ansar. (…) Es ähnelte durchaus einem deutschen Konzentrationslager.“

Auf andere Weise, doch ebenso sinnfällig, kurierte in der Altstadt von Jerusalem ein protestantischer Theologe, dessen Vater bei der SS gewesen war, sein inneres Leiden an Deutschland. Seit er Rabbiner wurde, nennt er sich She’ar Yashuv, was soviel heißt wie „Rest der Gemeinschaft“ – und weil dieser Rest ihm zu klein war, hat er seiner Frau sechs Kinder gemacht. Für jede Million eines, wie er einem Reporter erzählte.

Aus: Eike Geisel: Die Banalität der Guten. Deutsche Seelenwanderungen, Berlin 1992 (Edition Tiamat), S. 23-27.

Zum Screenshot: Ausschnitt aus dem Beitrag „Wir versuchen es immer wieder: Wie deutsche Juden die israelische Seeblockade durchbrechen wollen“, der am 17. Juni 2010 im Rahmen der ARD-Sendung Monitor ausgestrahlt wurde.