Die Erfindung des österreichischen Volkes

Das Wiener Bruno Kreisky Forum für internationalen Dialog hat im Rahmen seiner Reihe „Talking for Peace“ für den 13. Oktober einen Vortrag des israelischen Historikers Shlomo Sand mit dem Titel „The invention of the Jewish people“ („Die Erfindung des jüdischen Volkes“) angekündigt. In der Einladung stellt das Forum unter anderem die Frage: „Wenn der Mythos des jüdischen Staates demontiert ist, könnte dies den Weg zu einem offeneren israelischen Staat bereiten?“ Offenbar gilt die brennendste Sorge des Veranstalters also nicht dem eigenen Land und der eigenen Geschichte, sondern den Problemen der jüdischen Historie und der israelischen Identität. Wie formulierte es der stellvertretende Vorsitzende der SPÖ-Arbeitsgemeinschaft für Entwicklungspolitik, Walter Sauer, so unnachahmlich? „Wir [dürfen] heute unsere Augen nicht vor dem schleichenden Völkermord verschließen, den Staatsideologie und Staatspraxis des Judentums an den Palästinensern, insbesondere im Gazastreifen, verursachen.“ Karl Pfeifer hat dies zum Anlass genommen, sich mit dem Mythos des „österreichischen Volkes“ zu beschäftigen.


VON KARL PFEIFER


Menschen, die sich heutzutage als Österreicher betrachten, perpetuieren einen Betrug oder sind die Opfer eines solchen. Denn die „Österreicher“ sind gar kein Volk – und die Behauptung, sie hätten während der letzten zweitausend Jahre das Gebiet des Staates Österreich besiedelt, ist nichts weiter als ein Mythos, den die Ideologen des „österreichischen Nationalismus“, der während der dreißiger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts erfunden wurde, ersonnen haben.

Die „Österreicher“ sind vielmehr eine Promenadenmischung von keltischem, bajuwarischem, slawischem, ungarischem und italienischem Blut. Bis 1945 waren die meisten von ihnen zufrieden mit einer deutschen Identität; sie sprachen – wenn auch nicht alle korrekt – Deutsch, kämpften in der deutschen Armee und fühlten sich bis zum Zusammenbruch des Naziregimes als Deutsche. Die Ansicht, dass die „Österreicher“ ein besonders Volk sind, das eine eigene Kultur und eine eigene Identität hat und somit einen eigenen Staat verdient, war im alltäglichen Leben marginal. Doch eine Gruppe von Intellektuellen begann, gewöhnliche Menschen von ihrer randständigen Idee zu überzeugen.

Dazu muss man wissen, dass nahezu alle in Österreich Lebenden – mit Ausnahme einiger unverbesserlicher Monarchisten – nach 1918 zu Deutschland gehören wollten, die Ententemächte im Frieden von St. Germain aber auf einem Anschlussverbot bestanden. Trotzdem hielten die Sozialdemokraten bis Ende der 1930er Jahre an ihrer Ansicht fest, die „Österreicher“ seien eigentlich Deutsche, und auch die Christlichsozialen postulierten, der Ständestaat sei der bessere deutsche Staat. Alsdann erlebte die Welt, wie sich die Masse der „Österreicher“ heiser schrie: „Ein Volk, ein Reich, ein Führer!“ Auch der Sozialdemokrat und spätere Präsident der Republik Österreich Karl Renner begeisterte sich für den Anschluss – sogar für den Anschluss des Sudetenlandes an das Deutsche Reich. Außer den Monarchisten hielten lediglich die Kommunisten an der Fiktion eines österreichischen Volkes fest.

Erst nach Stalingrad und der Moskauer Deklaration erkannten viele „Österreicher“, welchen Profit man daraus ziehen kann, nicht mit den Deutschen identifiziert zu werden. Man hielt sich nun für das „erste Opfer“ der Nazis, sprach Dialekt und ersetzte Deutsch durch eine „Unterrichtssprache“. Die Produzenten von Steireranzügen und Dirndln erlebten einen einmaligen Aufschwung. Und Karl Renner, der jetzt Staatskanzler war, erklärte bereits am 29. August 1945 „in Bezug auf die Behandlung des Naziproblems“, „dass alle diese kleinen Beamten, diese kleinen Bürger und Geschäftsleute bei dem seinerzeitigen Anschluss an die Nazi [sic!] gar nicht weittragende Absichten gehabt haben – höchstens, dass man den Juden etwas tut –, vor allem aber nicht daran gedacht haben, einen Weltkrieg zu provozieren.“

In Österreich geboren zu sein, macht einen nicht automatisch zum Österreicher. Wer allerdings von österreichischen Staatsbürgern abstammt, kann die Staatsbürgerschaft leichter bekommen, auch wenn er oder sie nie in Österreich war und nicht Deutsch sprechen kann. Angesichts dieser Tatsachen sollte erwogen werden, aus Österreich einen Staat aller seiner Einwohner zu machen – zum Beispiel auch der Slowenen in Kärnten, denen dieser Staat bis heute nicht alle Rechte gewährt (wie man am Beispiel der Ortstafeln gut sehen kann) – und die Rechte nicht nur denjenigen zu gewähren, die sich zum österreichischen Nationalismus bekennen oder die erfundene Geschichte glauben, sie wären „Österreicher“. Um dies zu verwirklichen,

  • sollte man die Diskriminierung aller Menschen, die in Österreich geboren sind, aufheben und Menschen österreichischer Abstammung nicht mehr begünstigen;
  • sollte man das „österreichische Volk“ erziehen, damit es nicht mehr an die Lüge glaubt, ein Volk mit dem Recht auf Selbstbestimmung zu sein;
  • sollte man dem „österreichischen Volk“ helfen, seine wirkliche Identität zu finden, die durch den österreichischen Nationalismus zum Schweigen gebracht wurde;
  • sollten eine Regierungsform und eine eigene Identität gefunden werden, wobei die Ideologie des österreichischen Nationalismus und die nationale Identität als „Österreicher“ selbstverständlich ausgeschlossen werden.

Aber anscheinend hat die österreichische Sozialdemokratie keine andere Sorge als die jüdische Geschichte und die israelische Identität. Doch wenn sich die Theorien von Shlomo Sand nicht nur auf Juden und Israel beschränken, dann sollte die SPÖ sie im eigenen Land anwenden – oder damit aufhören, von einem „Mythos des jüdischen Staates“ respektive einer „Erfindung des jüdischen Volkes“ zu schwadronieren.