Le chaim!

Kaum einer der ungezählten „Israelkritiker“ hierzulande versäumt es, seiner „Kritik“ pflichtschuldig die generöse Versicherung voranzustellen, das „Existenzrecht Israels“ keinesfalls in Zweifel ziehen zu wollen (wiewohl das, was dem anschließenden großen „Aber“ folgt, stets unweigerlich auf die Unterminierung des jüdischen Staates zielt). Doch was heißt da überhaupt „Existenz“? Ruth Hayes hat beobachtet, dass diese Vokabel eine typisch europäische ist – weil man in Israel nicht bloß existiert, sondern lebt. Eine kleine Liebeserklärung.*


VON RUTH HAYES


Ich bin in Israel, es ist so drückend heiß, dass man davon Kopfschmerzen bekommt, ich habe juckende Mückenstiche überall, wie üblich haben sich bizarre Nies- und Schnief-Symptome sofort bei der Ankunft gemeldet, und doch liebe ich dieses Land mit jedem Besuch mehr. Es gibt keinen Ort, der diesem gleicht. Ich bin hier nun in der ersten Woche von zweien, und wie gewohnt bin ich ziemlich davon überzeugt, dass die überwältigende Wärme, die die Israelis ausstrahlen, mit daran „schuld“ ist, dass es so brütend heiß ist.

Lassen Sie mich etwas erzählen. Am Samstag habe ich im Einkaufszentrum in Rehovot den neuen Film Inception gesehen (Science-Fiction, ich weiß, aber dafür ziemlich gut). In Israel sind all die vielen edlen Einkaufszentren am Motze Shabbat (also am Samstagabend nach dem Sonnenuntergang) immer mehr als randvoll mit lärmenden, geschäftigen Israelis. Typisch sind Horden von Müttern mit riesigen Kinderwagen, Familien, junge Schönheiten, die ihr Aussehen in jedem Schaufenster überprüfen, an dem sie vorbeikommen, religiöse Familien mit vielen süßen Kleinkindern, Araber in traditioneller Kleidung und all die anderen verschiedenen Farbtöne der israelischen Gesellschaft.

Als wir in der langen Schlange standen, um Eintrittskarten zu kaufen, beobachtete ich das Meer von quietschfidelen, angeregt schwatzenden Israelis um mich herum. Zuerst fällt mir immer auf, wie unglaublich gut sie aussehen. Es ist einfach eine sexy Nation. Praktisch überall sieht man atemberaubend schöne Frauen und Männer. Wenn Sie mir das nicht glauben, fragen Sie einfach irgendjemanden, der dieses Land besucht hat, nach dem Grad von menschlicher Schönheit, und Sie werden sehen, wie sie alle die Augen verdrehen und schwärmen, schwärmen, schwärmen.

Wie auch immer: Während ich diese fröhlich lärmenden Israelis beobachtete, wurde mir auf einmal klar, wie absurd dieses Hin und Her darüber ist, ob Israel ein „Existenzrecht“ als jüdischer Staat hat (oder welchen Unsinn die selbst ernannte Existenzpolizei sonst gerade bevorzugt). Diese Nation ist derart lebendig, dass sie die Menschen mehr als einfach nur existieren lässt. Existieren? Ha! Kann sein, dass Europäer das tun, vielleicht sind sie damit zufrieden, einfach nur zu existieren, und finden es daher notwendig, ihre eigenen Werte auf uns zu übertragen. Sie existieren. Wir in Israel hingegen existieren nicht nur. Wir leben. Wir sind lebendig. Gesund und munter und laut und stolz und sehr dankbar, dass wir es endlich nach Tausenden von Jahren bis nach Hause geschafft haben.

Vielleicht sollten die Europäer dieses Programm einfach übernehmen. Wir erklären und rufen es in Israel laut aus: „Am Israel chai!“, das heißt: Die jüdische Nation lebt. Sie existiert nicht einfach nur. Sie lebt. Chaim (der Plural von „Leben“) ist einer der beliebtesten Jungennamen in diesem Land, und das ist kein Zufall. Ich schlage vor, dass jeder, der ein bisschen verwirrt ist von dem, was ich schreibe, hierher kommt und sich selbst ein Bild davon macht, was es heißt, zu leben und nicht nur zu existieren.

So, wie ich es erlebe, erklärt sich vielleicht auch, warum so viele aus reichen westlichen Ländern Alija machen. In Israel zu sein ist immer wie das Gefühl, das man nach einem eisigen Winter hat, wenn die Sonne das erste Mal wieder hervorkommt. Die Blumen blühen, die Vögel singen, die Motten überfallen dein Haus, vielleicht staubst du deine Sandalen ab und fühlst dich unglaublich gut, einfach weil du am Leben bist. Kennen Sie dieses Gefühl? Gut, dann vervielfältigen Sie es unendlich oft und stellen Sie sich vor, es wäre von Dauer. Das ist es! Man hört nicht nur den Herzschlag des Landes hier, man kann ihn sehen und fühlen und ist selbst ein Teil davon.

Deshalb für diejenigen unter Ihnen, die nur die Erlaubnis zum Existieren erhalten haben und der Vorliebe westlicher Gesellschaften für die Existenz statt für das Leben verfallen sind: Ich schlage vor, Sie kommen nach Israel, schneiden sich von der jüdischen Nation eine Scheibe ab und lernen das mit dem Leben ein bisschen. Unseren vollen Segen hätten Sie, und wir würden es nicht einmal für nötig befinden, Ihr Recht, es zu tun, in Frage zu stellen. Ist das nicht großzügig?

„Am Israel chai“ erscheint mir bedeutungsvoller als je zuvor.

Eine Warnung: Ja, es ist nicht alles Zuckerschlecken in Israel. Hier Auto zu fahren beispielsweise ist nahezu, wie in den Krieg zu ziehen. Aber es gibt keinen Ort auf dieser Welt, der an Israel heranreicht. Das garantiere ich.

Dieser Text hat übrigens in meinem Rechner festgesessen und auf seine Überarbeitung gewartet; ich hatte sehr viel zu tun. Und während ich jetzt in einem Café in Jerusalem sitze und arbeite, sehe ich am Nebentisch eine Europäerin mit einem Palästinensertuch im Arafat-Stil, die wütend etwas, das wie ein Artikel aussieht, in ihren Laptop hackt. Ich selbst habe mir einen Ruck gegeben, diesen Text gepostet und zu mir selbst gesagt, dass es das Gegenargument zu dem ist, was sie vermutlich über mein Land schreibt.

* Der Beitrag erschien zuerst unter dem Titel Existence is so overrated auf dem Weblog West Bank to West End. Übersetzung: Lizas Welt, mit freundlicher Genehmigung der Autorin.

Zum Foto (© Lizas Welt): Israelis feiern den 59. Jahrestag der Gründung des jüdischen Staates. Jerusalem, 23. April 2007.