Die Zahnpasta der Weisen von Zion

Wie judenfeindlich ist der Chavismus? Und was unterscheidet Venezuela von anderen lateinamerikanischen und europäischen Ländern mit starken antisemitischen Bewegungen? Stefan Frank geht diesen Fragen in einem weiteren Gastbeitrag für Lizas Welt nach.


VON STEFAN FRANK*

Who controls the British crown?
Who keeps the metric system down?
We do!
We do!

Who leaves Atlantis off the maps?
Who keeps the Martians under wraps?
We do!
We do!

Who holds back the electric car?
Who makes Steve Guttenberg a star?
We do!
We do!

Who robs cavefish of their sight?
Who rigs every Oscar night?
We do!
We do!

The Simpsons: Stonecutters Song

Wie antisemitisch ist der Chavismus bzw. „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“? Anfang des Jahres schrieb ich in einem Artikel über die Lage in Venezuela, der Antisemitismus sei der „wichtigste Pfeiler“ der chavistischen Ideologie. Dem widersprachen einige Leser: Der „Antiimperialismus“ sei die Hauptsache, der Judenhass nur eine Dreingabe. So, wie wenn man in der Apotheke beim Kauf eines Medikaments eine Packung Tempo gratis dazu bekommt. Ich glaube immer noch, dass es umgekehrt ist: Die Droge, die Chávez und seine Leute antreibt, ist der Antisemitismus; dazu werden ein paar rote Taschentücher verteilt. Dass es ebenso gut braune sein könnten, wird nicht bestreiten, wer weiß, wie Chavisten denken. Man schaue zum Beispiel auf Aporrea, ihre wichtigste Publikation im Internet. Ende Juli erschien dort ein Beitrag, der dem Bild des Chavismus als dem Nationalsozialismus des 21. Jahrhunderts noch ein paar Pinselstriche hinzufügt: „Die Wahrheit über die zionistische Herrschaft. Gezielter globaler Genozid und das künstliche Armageddon“.

Er beginnt mit einem Abschnitt über die „heutige Welt“ – oder das, was der Verfasser dafür hält. Das Jahrzehnt habe mit dem „Einsturz“ des World Trade Centers am 11. September 2001 begonnen, gefolgt vom „seltsamen“ und „plötzlichen“ Auftauchen von Grippeepidemien, den Invasionen in Afghanistan und den Irak, der Energie-, Lebensmittel- und Finanzkrise sowie den „Drohungen“ gegen Iran und Nordkorea. Wie das alles zusammenhängen mag? Nach einer „systematischen Analyse“ all dieser Ereignisse kommt der Autor zu dem Schluss, es gebe eine „zionistische Elite“, die das kapitalistische System dazu benutze, um – wieder einmal – die Weltherrschaft zu erlangen. Das habe sie schon fast geschafft. Doch gebe es derzeit noch Enklaven der Freiheit: Venezuela, den Iran und Nordkorea. Auch dort wolle die Elite ihr unmenschliches System errichten; zu diesem Zweck bereite sie gerade das „Armageddon“ vor. Jeden, der sich dem entgegenstelle, attackiere sie mit dem „abgenutzten Vorwurf des Antisemitismus“ (man sieht: über den „Antisemitismusvorwurf“ beklagen sich Nazis immer und überall).

Sie plane den „universalen homogenen Staat“ (ein Zitat des Holocaustleugners Norberto Ceresole, der jahrelang eine Art Hofprediger des venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez war und, wie manche glauben, Chávez in dieser Zeit zu dem Judenhasser gemacht hat, der er heute ist). Die Europäische Union – das ist wohl eine Überraschung – werde nach und nach alle Staaten der Welt absorbieren. Die Zionisten glaubten, Gottes auserwähltes Volk zu sein (auch dies darf natürlich nicht fehlen) und ein göttliches Recht zu besitzen, sich die Welt untertan zu machen. Das könne man in den „Protokollen der Weisen von Zion“ schließlich nachlesen. Organisationen, die von „Verschwörungstheoretikern“ (sic!) bezichtigt würden, die Weltherrschaft anzustreben – der Council on Foreign Relations, die Bilderbergkonferenz, die Illuminaten oder die Freimaurer –, seien in Wahrheit nur ein Teil der zionistischen Macht, der „genozidalen zionistischen Elite“, die den „Mythos des Holocaust“ (der „nachweislich falsch und mathematisch unwahrscheinlich“ sei) dazu benutze, den Planeten zu kontrollieren. Die Vereinten Nationen und die Organisation Amerikanischer Staaten seien völlig unter der Kontrolle der Zionisten (da fragt man sich, warum sie überhaupt keinen Gebrauch davon machen). Sie beherrschten die USA, hätten den Kalten Krieg für ihre Zwecke benutzt und, als sie dessen müde geworden seien, die Perestroika angeordnet, um die Sowjetunion zu zerstören.

Samuel Huntingtons Buch über den Clash of Civilizations sei das Drehbuch, nach dem die Zionisten handelten. Es sei inzwischen klar, dass das World Trade Center durch eine „kontrollierte Explosion“ zum Einsturz gebracht worden sei. Osama bin Laden sei nie gefunden worden, weil er in Wirklichkeit für die Zionisten arbeite. Um die „Neue Weltordnung“ aufzubauen, müsse ein Teil der Weltbevölkerung vernichtet werden. Dazu seien in den vergangenen Jahren bereits einige Testläufe unternommen worden: BSE (2002), SARS (2003), die Vogelgrippe (2003) und kürzlich die H1N1-Grippe. Die Krankheitserreger hätten die Zionisten ebenso im Labor hergestellt wie den Aids-Virus, den sie durch Polio-Impfungen in Afrika verbreitet hätten. Das Ziel dieser Seuchenexperimente sei der „globale Genozid“: die Verbreitung eines Supervirus durch Convenience Food oder Zahnpasta, Produkte, die bekanntlich nur von Zionisten hergestellt werden. Dieses „Armageddon“ planten sie für das Jahr 2012; durch Filme, die Endzeitstimmung erzeugten, und die von ihnen erfundene Theorie der Klimaerwärmung bereiteten sie die Welt jetzt schon darauf vor. Damit sei auch klar, warum die US-Armee historische Kulturschätze im Irak zerstört habe: Diese hätten beweisen können, dass die mesopotamische Kultur älter ist als die hebräische, was die Juden natürlich unmöglich hätten erlauben können. Die anderen Religionen wollten sie zersetzen, indem sie das Vertrauen ihrer Anhänger untergrüben – beispielsweise indem sie Pädophilenskandale in der katholischen Kirche ins Rollen brächten. Noch allerdings sei Widerstand möglich, denn – und das ist der einzig wahre Satz in diesem Text: „Wir sind Millionen.“

Man kann wohl sagen, dass dieser Artikel über den gewöhnlichen antisemitischen Wahn hinausgeht, selbst nach venezolanischen Maßstäben. Wer sich nicht mehr die Zähne putzt, weil er fürchtet, dass die Juden ihn vergiften wollen, sticht aus der Masse der Antisemiten schon ein Stück hervor. Er ist aber kein isolierter Einzelgänger, sondern den anderen bloß vorausgeeilt. Dass ein solcher Beitrag auf der – von der venezolanischen Regierung finanzierten – Website Aporrea erscheinen kann, zeigt ja, dass er zumindest für diskutabel gehalten wird. Was ihn so bemerkenswert macht, ist die blühende Fantasie des Verfassers – sein Weltbild aber ist gar nicht singulär. Denn es ist unter Chavisten gang und gäbe, zu glauben, die Juden seien eine „okkulte Macht“, die alle Regierungen, großen Konzerne, die Presse und natürlich Hollywood beherrscht. Fast schon moderat muss man da wohl einen Chavisten nennen, der sie nicht gleich umbringen will, sondern sich vorgenommen hat, „sie in Menschen zu verwandeln“. Traurig, aber wahr: Wer irre antisemitische Positionen vertritt, wird in Lateinamerika weder verlacht noch angefeindet, sondern kann sogar zum Staatspräsidenten gewählt werden. Man denke nicht nur an Hugo Chávez, sondern zum Beispiel auch an seinen Freund, den ehemaligen honduranischen Präsidenten Manuel Zelaya, der Reportern erzählte, er werde von Juden mit außerirdischen Strahlenkanonen traktiert.

Die über zweitausendjährige Geschichte des Antisemitismus lehrt: dass eine Pogromstimmung, wie sie in Venezuela erzeugt wird, früher oder später auch zum Pogrom führt; dass die Antisemiten den Juden in der Regel genau das unterstellen, was sie selbst gegen sie planen (etwa einen Genozid); und dass, wenn der Antisemit die Juden als das alles beherrschende, absolute Böse darstellt, sich mit nicht weniger als mit ihrer Vernichtung zufrieden geben wird. Was Venezuela von anderen lateinamerikanischen und europäischen Ländern mit starken antisemitischen Bewegungen unterscheidet, ist, dass der Antisemitismus in Venezuela von der Regierung angefacht wird, durch Propaganda, Verdächtigungen und Razzien in jüdischen Einrichtungen. „Sie hören wahrscheinlich von vielen antisemitischen Vorfällen, doch da, wo wir leben, wird der Antisemitismus gebilligt; er kommt vom Präsidenten, von der Regierung und über die Medien“, sagte Abraham Levy Ben Shimol, der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde Venezuelas, letztes Jahr auf der Konferenz des World Jewish Congress.

In Caracas ist selbst für Nichtjuden das Risiko sehr groß, auf der Straße umgebracht zu werden. Verfolgt werden nicht die Mörder, sondern Zeitungen, die über die Morde berichten. Auf die Polizei kann sich in Venezuela niemand verlassen. Welche Angst müssen dann erst die venezolanischen Juden haben? Und wer wird den Mob stoppen, wenn er zu der Ansicht gelangt, dass der Propaganda gegen die Juden endlich Taten folgen müssen? Im Januar 2009 wurde in Caracas eine Synagoge überfallen und verwüstet. Im Juni 2009 wurde das Haus eines jüdischen Politikers von einem chavistischen Mob angegriffen und mit Hakenkreuzen beschmiert. Immer wieder werden antisemitische Parolen an öffentliche Gebäude oder Häuser jüdischer Familien gesprüht. Angesichts solcher Bilder ist es verständlich, wenn manch ein venezolanischer Jude Chávez mit Hitler vergleicht und sagt: „Für die Juden gibt es in Venezuela keine Zukunft.“

* Stefan Frank ist freier Journalist. Auf seiner Homepage ist eine Auswahl seiner Texte und Interviews zu finden.

Zum Foto: Der „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ und seine Baumeister – Hugo Chávez und Mahmud Ahmadinedjad feiern die Eröffnung einer (garantiert nichtjüdischen) Ölquelle am Orinoco River Basin im Südosten Venezuelas, 18. September 2006.

Eine englische Übersetzung dieses Beitrags ist unter dem Titel „Venezuela a Hotbed of Anti-Semitic Rantings by the Governing Elites“ bei Pajamas Media erschienen; eine niederländische Übersetzung findet sich auf dem Webportal Artikel 7: De tandpasta van de wijzen van Sion.