Ein fieser jüdischer Siedler

Jüdische Siedler sind religiös besessene, rassistische, niederträchtige Araberfresser, die sich jedem Kompromiss notfalls mit Gewalt widersetzen und ohne die der Nahe Osten längst eine Oase des Friedens und der Brüderlichkeit wäre – so oder so ähnlich dürfte sich jedenfalls die hierzulande vorherrschende Ansicht ohne sonderliche Übertreibung zusammenfassen lassen. Judah Ben-Yosef aus Ma’ale Adumim ist eine dieser vermeintlich so sinistren Gestalten – und er trifft regelmäßig wie freiwillig jene, die kaum einen Hehl daraus machen, dass sie ihn und Seinesgleichen für eine Ausgeburt des Gottseibeiuns halten. Hier schildert Ben-Yosef, wie diese Begegnungen in aller Regel verlaufen.*


VON JUDAH BEN-YOSEF


Es mag paradox klingen, aber es gibt tatsächlich Menschen, die einen anscheinend nur dann mögen, wenn man gemein zu ihnen ist. Ein gutes Beispiel dafür sind die Gruppen von deutschen Journalisten, Politikern und Akademikern, die von ihrer Regierung nach Israel geschickt werden. Nachdem sie mit israelischen Persönlichkeiten und Experten aus vielen verschiedenen Bereichen gesprochen haben, kommen sie nach Ma’ale Adumim, um mich, den Siedler Judah Ben-Yosef, zu treffen.

Ihr komfortabler, klimatisierter Bus hält vor unserem Einkaufszentrum, und ich springe in ihn mit einer Leichtigkeit hinein, die keinen Rückschluss auf mein Alter zulässt. Irgendwie ist immer eine Frau mit kurzen Haaren dabei, die meine Hand schütteln will. Ich versuche das eigentlich zu vermeiden, doch jedes Mal stürzt es mich von Neuem in einen Zwiespalt, sodass ich es letztlich doch tue, um uns beiden die Peinlichkeit zu ersparen.

Vor kurzem wurde ich höflich gebeten, Sarkasmus und andere Formen von Humor zu vermeiden, da beides Verhaltensweisen sind, die eindeutig nicht mit dem von CNN und BBC vermittelten Bild der Siedler konform gehen. Wir sollen entweder naiv oder mit verklärtem Blick in der Bibel lesende, bärtige Cowboys oder in Brooklyn geborene, grausame und mitleidlose Kriegstreiber sein. Die bösen Buben in den alten Filmen hatten nie Sinn für Humor. Ich jedoch kann mich nicht beherrschen und beginne mit einem Witz.

„Willkomen in Ma’ale Adumim, der zweitgrößten Stadt in Judäa und Samaria. Mein Name is Judah Ben-Yosef, ich lebe hier seit 25 Jahren, und wir freuen uns immer, wenn wir Gäste empfangen dürfen. (Skeptische Blicke.) Ich weiß, dass niemand von Ihnen eine vorgefasste Meinung darüber hat, wie eine Siedlung oder ein Siedler aussieht. (Einige lächeln.) Ich weiß, dass Sie alle vollkommen objektiv sind und bereit, unvoreingenommen zuzuhören und zu lernen.“ Das ist zu viel. Das Lachen bringt den Bus förmlich zum Wackeln, während die Journalisten aus dem Westen bei dem absurden Gedanken, dass sie tatsächlich unvoreingenommen hierhin gekommen sein könnten, geradezu hysterisch werden. Offene Münder: immer – offene Hirne: kaum jemals.

Für sie gibt es – schon lange bevor sie mich getroffen und irgendetwas gesehen haben – gewisse unleugbare und unwiderlegbare Wahrheiten. Wir sind alle „Friedenshindernisse“, „Teile des Problems“ und leben „auf gestohlenem palästinensischen Land“; trotzdem geht es mir gut. Die Sonne scheint über den Hügeln von Judäa, und mein Zuhause sieht schöner aus denn je. Meine Gäste scheinen mein Englisch zu verstehen, und – das ist das Wichtigste – sie scheinen einen guten Gag zu würdigen, wenn sie ihn hören.

Vor ungefähr vier Jahren habe ich angefangen, gelegentlich für die deutsche Regierung zu arbeiten. Ich machte mir keine Illusionen, dass – nach ungefähr zwei Wochen sorgfältiger Gehirnwäsche durch arabische Wortführer und, viel schlimmer noch, durch die israelische Linke – die zwei Stunden mit mir nennenswert dazu beitragen können, Meinungen zu ändern. Aber ich bin Schachspieler, daher habe ich mir drei Ziele gesetzt, die nach meinem Dafürhalten realistisch und erreichbar sind:

  • Erstens: die tatsächliche Größe einer real existierenden Stadt mit 40.000 Einwohnern zu vermitteln. Ich hoffte, dass dies für eine Delle im Stereotyp der jüdischen Siedlung mit zwei Zelten, einer Ziege und einer Fahne würde sorgen können.
  • Zweitens: zu zeigen, dass Ma’ale Adumim noch nie in der Geschichte ein Teil irgendeines palästinensischen oder arabischen Staates war, dass niemand außer ein paar Mönchen im 13. Jahrhundert je hier gelebt hat und dass es im Land viele andere unfruchtbare Berghöhen gibt.
  • Drittens: zu zeigen, dass wir nicht alle religiöse rechtsradikale Fanatiker sind (wie ich), sondern dass die Bevölkerung von Ma’ale Adumim aus einem Querschnitt der israelischen Bürger besteht: Religiöse, Säkulare und andere, neu Eingewanderte und Alteingesessene, Rechte, Menschen der Mitte und sogar einige vom linken Flügel.

Mein Hauptziel ist es, Stereotype ins Wanken zu bringen. Ich glaube, wenn ein intelligenter Mensch merkt, dass manche der Klischees, die man ihm „verkauft“ hat, nicht der Wirklichkeit entsprechen, dann wird er vielleicht anfangen, sie zu hinterfragen.

In vielerlei Hinsicht sind es die ersten paar Minuten, die bestimmen, wie weit die Tour mit mir jeden einzelnen Menschen beeinflusst. Sie alle schauen aus den Fenstern und sehen eine malerische, friedliche, moderne, gut gepflegte westliche Stadt. Dieses Bild ist unweigerlich das genaue Gegenteil von allem, was man ihnen zu erwarten beigebracht hat. Wenn vorgefasste Meinungen mit der Wirklichkeit konfrontiert werden, ist man erst einmal schockiert oder durchlebt sogar eine Krise. Ganz grundsätzlich kann man drei typische Reaktionen darauf beobachten:

  • Einige entscheiden sich dafür, lieber auf die umliegenden Berge als auf die Stadt zu schauen. Sie werden es in der Folge vorziehen, sich auf das große Ganze zu konzentrieren, da sie begriffen haben, dass sie herzlich wenig über die Details wissen.
  • Dann gibt es jene, die ehrlich zu glauben scheinen, dass Ma’ale Adumim ein Teil irgendeines cleveren Schauspiels der israelischen Regierung ist, das aufgeführt wird, um Besucher wie sie in die Irre zu führen.
  • Ab und zu jedoch treffe ich wirklich ehrliche Menschen, die aufnehmen, was man ihnen erzählt, die Fragen stellen und nicht versuchen, mich bei irgendetwas zu „ertappen“, sondern wirklich etwas wissen wollen. Überraschenderweise gibt es zwei Gruppen von Journalisten, die in dieser Kategorie herausragen: Die einen sind Journalisten aus der früheren DDR, die anderen sind muslimische deutsche Journalisten und Akademiker.

Die Tour ist eigentlich nur das Vorspiel. Nach ungefähr einer Stunde setzen wir uns endlich zusammen, um zu reden. Ich halte einen Vortrag, und dann stellen sie Fragen. Mit der Zeit habe ich diesen Vortrag immer stärker gekürzt, da sie so viele Fragen stellen und wir sowieso nie genug Zeit haben. Die Themen reichen von der Theologie über die Erziehung, den Zionismus und den Islam bis hin zu meinen Erwartungen für die Zukunft. Und wie die Dinge nun mal sind: Manche Fragen kommen jedes Mal, andere erstaunen mich durch ihre Originalität. Einige Gäste zeigen ein riesiges Unwissen, andere überraschend gute Kenntnisse. Als eine persönliche Herausforderung versuche ich, niemals eine Antwort zweimal zu geben.

Einige der Fragen, die immer gestellt werden, sind diese: Warum würde jemand wie Sie sich dafür entscheiden, London zu verlassen, um hierher zu kommen und hier zu leben? Leben auch Nichtjuden in Ma’ale Adumim? Was würden Sie tun, falls Ihre Regierung beschließen würde, Ma’ale Adumim zu evakuieren? Würden Sie Widerstand leisten? Haben Sie irgendwelche palästinensischen Freunde? Akzeptieren Sie die Idee einer Zweistaatenlösung?

Es gibt eine Entscheidung, die ich am Anfang getroffen habe, und die war, niemals den Holocaust zu erwähnen. Das wäre sozusagen meine atomare Option. Die würde ich für den Tag aufheben, an dem ich keine Antwort mehr wüsste. Gott sei Dank ist dieser Tag nie gekommen.

Ich muss aber zugeben, dass ich in Versuchung war. Als ein großer blonder Mann mit blauen Augen – so kalt, dass sie Wasser in Eis hätten verwandeln können – mich anging, wie ich einen jüdischen Staat aufrecht erhalten wolle angesichts der Herausforderung, die die palästinensische Geburtenrate darstelle, war ich beinahe so weit zu antworten, dass es heute ein weniger großes demografisches Problem gäbe, hätten seine Vorfahren nicht sechs Millionen der Meinigen umgebracht. Aber ich blieb friedlich. Es gibt eine Menge anderer, rationalerer Antworten.

Beim letzten Mal habe ich „es“ allerdings doch getan. Eine nicht unattraktive Journalistin fragte mich, wie ich mich fühlte, wenn ich die ganzen Dinge läse, die über Israel geschrieben würden. Die Frage war nicht besonders provozierend, aber vielleicht war ich einfach schlechter Laune. Womöglich hat mich auch mein fortgeschrittenes Alter die Geduld verlieren lassen. Jedenfalls hatte ich an jenem Tag keine Lust, irgendwelche Spielchen zu spielen. Und so sagte ich, was ich wirklich fühle:

„Das erinnert mich an die Geschichte von dem Mann, der eines Tages unerwartet früh nach Hause kommt und seine Frau mit dem Nachbarn im Bett findet. Er war schockiert. Er war schockiert – aber er war nicht überrascht. (Gelächter – das Timing der Pointe bringt’s.) Bin ich schockiert? Bin ich schockiert, wenn ich die Berichte lese? Natürlich bin ich es. Wer könnte diese Lügen lesen und nicht schockiert sein? Bin ich überrascht? Bin ich überrascht, dass die Enkel der Monster, die meinen Urgroßvater in die Gaskammer zerrten oder ihn lebendig begruben, Artikel schreiben, in denen Israel kritisiert wird? Wie überrascht sollte ich sein?“ (Unbehagliche Stille.)

Danach gab es weitere Fragen, und nach der bizarren Zeremonie, Visitenkarten mit Leuten zu tauschen, die in einem Land leben, das ich weder in diesem Leben noch im nächsten je zu besuchen beabsichtige, bedankte sich der Leiter der Gruppe bei mir, es gab höflichen Applaus, und bald waren meine Gäste zurück in ihrem Bus. In wenigen Minuten würden sie unbeschwert auf dem Weg zum Toten Meer sein.

Ich vermute, ich habe endlich das Alter erreicht, in dem es mir weniger bedeutet, was die Leute von mir denken. Es hat lange gedauert, wie meine neue Liebe zu ungesüßtem Pfefferminztee, aber ich habe immer gewusst, dass irgendwann der Tag dafür kommen würde.

Zwei Tage später erhielt ich eine E-Mail:

Lieber Judah,

noch einmal vielen Dank dafür, dass Sie bereit waren, sich mit der Gruppe zu treffen.

Ihre Tour durch Ma’ale Adumim hat ein sehr gutes Feedback von den Teilnehmern bekommen.

Beste Grüße,

(Name des Unterzeichners)

Wie ich schon sagte: Das Paradoxe ist, dass einige Leute einen nur zu mögen scheinen, wenn man fies zu ihnen ist. Und ich bin ein fieser jüdischer Siedler.

* Der Beitrag erschien unter dem Titel One Mean Jewish Settler auf Judah Ben-Yosefs Weblog. Übersetzung: Lizas Welt, mit freundlicher Genehmigung des Autors, von dem auch das Foto stammt.

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