»Bewegungskunst« und ihre »Lösungen« (II)

Zweiter und letzter Teil einer Kritik der kommenden Berlin Biennale. (Zum ersten Teil geht es hier.)


VON WERNER FLEISCHER


Der Antisemitismus in Polen, durch den nach 1945 bis in die 1970er Jahre die nach der Shoah in Polen verbliebenen Juden gezwungen wurden, das Land zu verlassen; die Pogrome und Verfolgungen von 1918 bis 1939; die antisemitische und antizionistische Hetze im staatssozialistischen Polen 1968 – all dies ist entgegen anders lautenden öffentlichen Mutmaßungen nicht ausdrücklich Gegenstand des Kunstwerks von Yael Bartana. Die historischen Verweise sind selten und bleiben im Ungefähren: Als »Zeitzeugin« berichtet die Autorin Alona Frankel anlässlich der Totengedenkfeier des Jewish Renaissance Movement in Poland von ihrer Vertreibung aus Polen nach der Befreiung und fordert ihren polnischen Pass zurück; im ersten Film – »Mary Koszmary« (»Dreams and Nightmares«) – werden Grabsteine und das Mahnmal zur Erinnerung an die Opfer des Warschauer Ghettos gezeigt, was jedoch gerade nicht als Verweis auf den originären polnischen Antisemitismus bestimmbar ist. Ansonsten gibt es eher sentimentale Anspielungen, die von offenen Wunden sprechen; Juden könnten das Leben von 40 Millionen Polen verändern, wird als Versprechen auf dem Rasen des Stadions niedergeschrieben. Bartana und ihr Team machen den Betrachter nicht explizit auf die antisemitische Kontinuität und deren Aktualität in Polen aufmerksam. Dass deutsche und österreichische Rezensenten dennoch fast ausschließlich diese Deutung wiedergeben, liegt wohl an einem Bedürfnis, das hier anscheinend befriedigt wird – an jenem nämlich, einmal nicht auf die eigene Geschichte blicken zu müssen.

Dabei spricht schon die Zahl der erwünschten Rückkehrer von den jüdisch-polnischen Opfern der Shoah in Polen. Unbeirrt von der Tatsache, dass Millionen von Juden keineswegs Polen verließen, sondern vielmehr dort ermordet wurden, erfährt man trotz des dokumentarisch-politischen Gestus auch nichts von der Kollaboration in Polen. Bartanas »Bewegung« ruft die Juden im Gegenteil zur Rückkehr in ihre »Heimat« auf. Was als Provokation daherkommt, soll eine Art ahistorischen Naturzustand »ironisch« wiederherstellen, der ganz unironisch nahelegt, wie unnatürlich demnach die Existenz des jüdischen Staates Israel ist. Die ganze Vorführung des Künstlichen in der Ästhetisierung des Zionismus (Bartana meint auch zynisch-witzelnd, sich dafür auf Leni Riefenstahl berufen zu müssen) appelliert objektiv daran, Israel aufzugeben. Dass zudem im Manifest des JRMiP die Rückkehr aller Flüchtlinge weltweit in ihre Heimat gefordert wird, verweist auf zweierlei Aktualitäten: die »Rückkehr«-Forderung der Palästinenser in »ihr« Land und – da wir uns in Berlin befinden – auf die deutschen »Vertriebenen«, deren Wohlwollen Bartana sicher sein dürfte. Artur Zmijewski hat folglich auch das Deutschland-Haus und die Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung zu Bündnispartnern erkoren und wirbt auf der Website der Berlin Biennale mit einer Abbildung der Skulptur »Die Ausgewiesenen« von Hermann Joachim Pagels, der laut Wikipedia »zur Zeit des Nationalsozialismus […] durch seine Adolf-Hitler-Büsten bekannt« wurde. Die Stiftung sucht nach »Objekten«, die an den »erzwungenen Heimatverlust erinnern«. Diese Unverfrorenheit – hierzulande findet sich kaum ein Erbe, das nicht zumindest teilweise aus dem Raubgut der Vernichtung herrührt – deckt sich mit dem offenen Geheimnis, dass das Begehren der deutschen »Vertriebenen« ihrem »Objekt«, nämlich »sudetendeutschem« und schlesischem »Boden«, gilt, was sie vor allen anderen zu idealen Deutschen macht.

Bei anderen Rackets hat Zmijewski das symbolträchtige Objekt bereits finden lassen: Der »größte Schlüssel der Welt« – ein Gebilde, dessen Schlüssel ein Schlüsselloch öffnen soll und Assoziationen an einen Phallus samt gewaltsamer Penetration hervorruft – wird aus dem »Flüchtlingslager Aida« in der Westbank »Tausende Kilometer über Land und Wasser nach Deutschland reisen«. Die Darstellung dieser »Kunst-Aktion« durch die Berlin Biennale liest sich wie von der Propagandaabteilung der PLO verfasst: »Generationen von Palästinensern« warteten »auf die Erfüllung eines ›Rückkehrrechts‹«; der Schlüssel sei »am Lagereingang installiert worden, wo er verkündet: ›Unser Recht auf Rückkehr ist unanfechtbar.‹« Bei diesem mit revisionistischer Verve vorgetragenen Wunsch nach einer Auslöschung Israels will das Auswärtige Amt der Bundesrepublik Deutschland als Träger deutscher Kultur nicht abseits stehen: Als Unterstützer in Form seines Goethe-Instituts in Ramallah trägt es zur stetigen Erinnerung daran bei, dass dieser »kulturelle Dialog« einst – nämlich zu Zeiten der Deutschen Akademie, also der Vorgängerin der Goethe-Institute – bis zu palästinensisch-arabischen SS-Verbänden hinreichte. Passenderweise wird in einem der Filme von Bartana dann auch die Nationalhymne Israels, die Tikvah, rückwärts abgespielt.

Das Verhältnis von erfahrbarer Realität, Vermittlung und Abstraktion in der Kunst, der notwendig widerspruchsvolle Abstand zum Engagement im jeweiligen Werk, wird aufgelöst zugunsten der Evidenz, die jedem einleuchten soll: Antirassismus. Alles ist funktional an seinem Platz. Widerstand gegen das eigene Vorhaben imaginiert sich das Werk von Bartana von außerhalb, der Anführer der »Bewegung« wird ermordet, so, als nähme die Szene die Realität vorweg; die Verschwörung gegen die »Bewegung« wird nahegelegt. So werden Verhältnisse, ideologische wie warenproduzierende gleichermaßen, zum Verschwinden gebracht. Die Aktivisten sind gezwungen, Politik zu machen. Als Prototyp der Aufhebung der Trennung von Kunst und Leben kann Beuys gelten, der sich ebenso wünschte, seine Bewegung von der Kunst ins Leben zu führen, bis ihm letztlich alles in eins fiel – ob es »soziale Plastiken« waren oder er die Parole verkündete, dass jeder Mensch ein Künstler sei, ob er Parteien beitrat oder sie selbst gründete. Nicht zuletzt dieser Drang zum Populären machte ihn zu dem deutschen Künstler nach 1945, der sich als das Gegenteil von Warhol inszenierte. Der Hang zum Ursprünglichen, das Sein-an-sich (Energie, Fett, Tiere, Alchemie, Schamane usw.), fand bei Beuys auch in der Gegnerschaft zu Geld und Zins seinen Ausdruck.

Die ikonografische Bestimmung bei Bartana bleibt diesbezüglich vage, wobei das instrumentelle Verhältnis zum Tod des Bewegungsanführers und die bei dessen Totengedenkfeier auf einer Bühne sitzenden Darsteller von Honoratioren, historische Bürgen und prominente Unterstützer (9) der »Bewegung« eben dieses Ungefähre betonen. Nach Joachim Bruhn geraten auch das Gedenken und die Erinnerung in den Sog der Krise, also in das Feld der Ideologie des Schlussmachens (10). Als wollten sie sich in einem Nichts der Erinnerung, in der Null des Geschichtlichen, »erlösen«, könnte das Ressentiment gegen den Zins übersetzt werden in das, was unter dem Schlagwort »Holocaust-Industrie« hetzt, dass die Juden die Shoah »instrumentalisierten«. Auch Zmijewski hofft auf Künstler, die »in der Lage sind, Utopien zu verwirklichen, und eine Situation heraufbeschwören, in der die Unterdrückungsmechanismen der kapitalistischen Wirtschaft aufgehoben sind. Statt einer Ökonomie des Profits herrscht plötzlich die Ökonomie der Gabe.« Für die Aufhebung der Verhältnisse hofft er auf »Wunder«, nämlich »die Abschaffung des die Kunst beschränkenden Systems und ihre Befreiung von ideologischer Impotenz«. Aufgepumpt mit Fruchtbarkeitsvorstellungen und dem »Willen zur Tat« winken in Wahrheit Destruktion und die Herrschaft der Banden. Als Co-Kuratoren der Biennale wurde von Zmijewski auch Kunstaktivisten der Gruppe Woina eingeladen, die »ohne festen Wohnsitz auskommen, ohne Dokumente, und prinzipiell kein Geld in die Hand nehmen«.


Selbstnormalisierung und Ignoranz

»Noch das äußerste Bewusstsein vom Verhängnis droht zum Geschwätz zu entarten«, schrieb Adorno, bevor er feststellte, dass nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben barbarisch sei (11). Das lässt auch die Dreistigkeit fürchten, mit der die Täter der Shoah und ihre Nachfahren sich in der Zurschaustellung der Vernichtung – die sich als »Aufarbeitung«, »Bewältigung« und »Versöhnung« rhetorisch und ideologisch demonstriert – selbst normalisieren, wie es beispielhaft und monströs am Holocaust-Mahnmal in Berlin gezeigt wird. Komplementär wäre in dem Biennale-Projekt, neben der Indifferenz gegenüber den Opfern der Shoah, die latente bis offene Ignoranz gegenüber dem Widerstand, der Befreiung, der Rettung, des Überlebens feststellbar – also gegenüber dem, was den Überlebenden Israel zum Heimatstaat machte und macht, und gegenüber anderen Staaten des Westens wie den USA.

Der Imperativ Adornos ist ebenso konkret und geschichtlich bezogen, wie er kein Beitrag fürs Poesiealbum der Völkerverständiger ist. Das bestimmt gerade seine universelle Gültigkeit. Konsequent muss von daher den Aktivisten des JRMiP der Antisemitismus als rassistisches Vorurteil erscheinen, muss die Shoah polnisch, der Revisionismus gespielt und die Geschichte der Vernichtung zum Gegenstand eines Spektakels werden. Die »Bewegung« will während der Biennale eine Konferenz im Theater Hebbel am Ufer veranstalten, um ihre Forderungen und Erwartungen öffentlich zu diskutieren. Diese Konferenz ist der künstlerische Beitrag von Yael Bartana zur Biennale; Vorbereitungskonferenzen haben bereits stattgefunden. »Meinen die das ernst?«, war die häufig gestellte Frage von Besuchern in Venedig. Es ließe sich, Gerhard Scheit variierend, antworten: »Sind die metaphorischen Rätsel, die Bartanas/Zmijewskis Fantasie(n) aufgeben, nicht die politische Strategie? Gehört nicht die Verunsicherung essenziell zum Antisemitismus – Verunsicherung darüber, was Israel sei, was es zum Staat der Juden und zum Juden unter den Staaten mache und was infolgedessen mit ihm, Israel, zu geschehen habe?« (12)

Weil sie, die Aktivisten, wissen, es wissen müssen, dass der Antisemitismus die Vernichtung der Juden will, dass er gegenwärtig als »Israelkritik«, »Antizionismus« oder »Friedensbewegung« daherkommt und dass er in Deutschland wie in Europa – mit der Option zur Massenbewegung – in Parteien, NGOs, Migrantenverbänden, Nazivereinigungen, Moscheen und Kirchengemeinden seine politische Kraft gewinnt und reproduziert, sollten sie bedenken, dass ihr Vorschlag objektiv nur als Einladung zu verstehen (wie mit »interesselosem Wohlgefallen« misszuverstehen) ist, der Androhung einer zweiten Shoah in und gegen Israel, wie gegenwärtig durch das islamistische Regime in Teheran samt seiner Verbündeten, Unterstützung zu geben.

So es denn in Berlin dazu kommen sollte, empfiehlt sich die Forderung: Keine Tickets gegen Israel, der Kurator tritt zurück – aus Gründen der Autonomie der Kunst und der Aufklärung. Solidarität mit Israel!

Eine längere Fassung dieses Beitrags mit weiteren Anmerkungen und Quellenangaben erschien Anfang März 2012 zur Ausstellung von Boaz Kaizman.


Anmerkungen
(9) So Alona Frankel, der Journalist Yaron London – der eine »eine zionistische Rede« hält, in der er darauf »beharrt (!), dass Israel und seine Armee die einzige Garantie sind gegen einen weiteren Holocaust« (Kolja Reichert, Die Welt vom 6. Januar 2012) – sowie die Kuratorin Anda Rottenberg, die ein um den Hals geschlungenes Palästinensertuch präsentiert und »für die versöhnende Kraft der Kultur und der Kunst steht« (Goethe-Institut Polen, November 2011).
(10) Joachim Bruhn: Echtzeit des Kapitals, Gewalt des Souveräns. Über die Zukunft der Krise. In: Bahamas, Nr. 63, Winter 2011/12, S. 71.
(11) Theodor W. Adorno: Kulturkritik und Gesellschaft (1949). In: ders: Gesammelte Schriften, Band 10.1: Kulturkritik und Gesellschaft I, Frankfurt/Main 1977, S. 30.
(12) »Sind die metaphorischen Rätsel, die Wagners Phantasie aufgibt, nicht die politische Strategie? Gehört nicht die Verunsicherung essentiell zum Antisemitismus – Verunsicherung darüber, wer ein Jude sei, was ihn zum Juden mache und was infolgedessen mit ihm zu geschehen habe?« Gerhard Scheit: Verborgener Staat, lebendiges Geld. Zur Dramaturgie des Antisemitismus. 2., verbesserte und erweiterte Auflage, Freiburg 2006, S. 320.