Das unheilbar gute Gewissen

Seit die beiden Politikwissenschaftler Samuel Salzborn und Sebastian Voigt kürzlich ihren Aufsatz zum Antisemitismus in der Linkspartei vorgelegt haben, hat sich der öffentliche Druck auf eben diese Vereinigung deutlich erhöht – so sehr, dass der Vorsitzende ihrer Bundestagsfraktion, Gregor Gysi, Anfang Juni eine Erklärung mit dem Titel „Entschieden gegen Antisemitismus“ initiierte, die wohl so etwas wie ein Befreiungsschlag sein sollte. „Rechtsextremismus und Antisemitismus haben in unserer Partei heute und niemals einen Platz“, heißt es darin unter Umgehung allerlei semantischer Grundregeln, und: „Wir werden uns weder an Initiativen zum Nahost-Konflikt, die eine Ein-Staaten-Lösung für Palästina und Israel fordern, noch an Boykottaufrufen gegen israelische Produkte noch an der diesjährigen Fahrt einer ‚Gaza-Flottille’ beteiligen.“ Dieser Beschluss sei einstimmig gefasst worden, ließ die Linksfraktion verlautbaren – doch rasch stellte sich heraus, dass dieses Ergebnis nur zustande gekommen war, weil zehn Abgeordnete vor dem Votum die Sitzung verlassen hatten und weitere fünf gar nicht erst erschienen waren.

Die Dissidenten meldeten sich denn auch so unverzüglich wie lautstark zu Wort. Sie klagten, die Erklärung sei „nur durch großen psychologischen Druck“ zustande gekommen, „auf undemokratische Weise“ verabschiedet worden, ein „Maulkorberlass“ und eine „Unterwerfung der Linken, insbesondere ihres linken Flügels, unter die Attacken der Kriegsparteien“; außerdem seien die im Beschluss monierten Aktivitäten „per se nicht antisemitisch“. Es sind vor allem solche und ähnliche Äußerungen, die der öffentlichen Debatte um den Antisemitismus in der Linkspartei seitdem neuen Stoff geliefert haben – und ein verzerrtes Bild entstehen ließen: Im Fokus der Kritik stehen besonders hartleibige Genossen wie Andrej Hunko, Inge Höger und Annette Groth, während Gysi selbst, aber auch andere Befürworter der Fraktionsbeschlusses als durchaus entschlossene Kämpfer für den jüdischen Staat und gegen judenfeindliche Tendenzen in den eigenen Reihen gehandelt werden.

Dabei zeigt schon die Erklärung selbst, dass diese Dichotomie falsch ist. Denn die Nichtbeteiligung an Diskussionen über eine Einstaatenlösung, an antiisraelischen Boykottaufrufen und an der Gaza-Flotte bedeutet noch lange nicht, dass man diese antisemitischen Aktivitäten auch bekämpft, sondern lediglich, dass man sich aus ihnen heraushält. Darüber hinaus hat insbesondere Gregor Gysi mehrfach deutlich gemacht, dass der Erlass mitnichten das besagt, was Hunko, Groth & Co. aus ihm herauslesen zu können glauben: „Das ist kein Maulkorbbeschluss“, sagte er beispielsweise in einem Interview der taz. „Wir können über alles nachdenken und über alles diskutieren. Es gibt kein Verbot, Israel zu kritisieren.“ Was in seiner Partei ebenfalls nicht existiere, sei Antisemitismus, denn: „Antisemitismus bedeutet, Juden oder Jüdinnen zu benachteiligen oder Schlimmeres zu tun, weil sie Juden oder Jüdinnen sind. Das kenne ich aus unserer Partei nicht. Der Begriff wird derzeit leider inflationär verwandt.“ Er habe lediglich „zu viel Leidenschaft bei der Kritik an Israel“ festgestellt.

Eine Leidenschaft, die mit dem Terminus Besessenheit zweifellos treffender qualifiziert ist – was Gysi zumindest ahnt, wenn er im selben Interview feststellt, dass es ein ähnliches Engagement seiner Parteigenossen „nicht bei Ägypten, nicht bei Libyen, inzwischen nicht einmal mehr bei den USA“ gibt, „aber sofort, wenn es um Israel und Palästina geht“. Doch das macht den Fraktionsvorsitzenden bloß „nachdenklich“, mehr nicht – nicht einmal angesichts einer besonders vulgären Israelfeindin wie Inge Höger, deren Auftritt auf einer Konferenz von Hamas-Sympathisanten in Wuppertal mit einem Tuch, das einen Nahen Osten ohne Israel zeigte (Foto oben), von Gysi mit den lapidaren Worten kommentiert wurde: „Dieser Schal ist ihr überreicht worden, sie hat nicht genau hingeschaut und mir später gesagt, es tue ihr leid. Damit ist die Sache geklärt.“ Auch die Gaza-Flotte lehnt er nicht etwa deshalb ab, weil sie ein antisemitisch motiviertes Unterfangen darstellt – sondern nur, weil ihm die „Finanzierung der Aktion nicht klar“ ist.

Kurzum: „Es geht nicht, dass behauptet wird, wer die Politik der Regierung Israels kritisiert, ist antisemitisch“, denn das sei „grobes Unrecht“, findet Gysi; allenfalls sei er bereit einzuräumen, „dass es die eine oder andere Äußerung gegeben hat, die auf großes Unverständnis stößt, obwohl sie“ – da ist er überzeugt – „gar nicht antisemitisch gemeint ist“. Auch sein Fraktionskollege Stefan Liebich – wie Gysi ein Unterstützer der Erklärung „Entschieden gegen Antisemitismus“ – versuchte in einem Interview des Deutschlandfunks, die Angelegenheit herunterzuspielen. „Wenn jemand Antisemit wäre, das heißt Jüdinnen und Juden als Nationalität oder als Religion angreift, dann gibt es dafür keine Entschuldigung; Israel zu kritisieren, ist natürlich gestattet“, antwortete er, als ihn der überaus standhafte und beharrliche Moderator Christoph Heinemann auf diverse wachsweiche Ausflüchte hin fragte: „Was muss denn passieren, ehe man bei Ihnen rausfliegt?“

Die gesamte Debatte zeigt eines erneut überdeutlich: Die Linkspartei hat kein Antisemitismusproblem, sie ist eines. Das unheilbar gute Gewissen ihrer Parlamentarier und Mitglieder – nicht nur jenes der Falken um Paech, Höger oder Groth, sondern auch das von vermeintlichen Täubchen wie Gysi und Liebich – sowie deren falsche und selbstgerechte Überzeugung, als Linke schon qua guter Gesinnung frei von judenfeindlichen Ressentiments zu sein, führen dazu, dass sich die Partei im Besitz eines Persilscheins glaubt, wenn sich ihre Angehörigen über Israel auslassen. Den Judenhass verortet man weiterhin ausschließlich im rechten Lager (worauf bereits das unsinnige Gerede vom „inflationären“ Gebrauch des Antisemitismusbegriffs verweist), und dass sich seine Erscheinungsformen modernisiert haben, übersieht man so großzügig wie absichtlich. Doch das ist kein Wunder, denn der Antizionismus – also die „geopolitische Reproduktion des Antisemitismus“ (Stephan Grigat), der Angriff auf die Juden in Form des Angriffs auf Israel als dem „Juden unter den Staaten“ (Léon Poliakov) – ist eine linke Selbstverständlichkeit. Und deshalb wollen sich die Genossen das „Menschenrecht auf Israelkritik“, wie die Redaktion der Zeitschrift Bahamas das ideologische Fundament des neuzeitlichen Antisemitismus schon 2003 treffend nannte, von niemandem bestreiten lassen.

Aber sie sind nicht die einzigen, und das muss in diesen Tagen noch einmal deutlich gesagt werden. Die Linkspartei ist zwar fraglos die parlamentarische Speerspitze des Antizionismus – doch nicht zuletzt der gegen Israel gerichtete überfraktionelle Antrag zum Thema Gaza, dessen einstimmige (!) Verabschiedung durch den Deutschen Bundestag sich in wenigen Tagen jährt, hat eindrucksvoll gezeigt, dass es vor allem in für den jüdischen Staat bedrohlichen Situationen oft genug keine Parteien mehr gibt, sondern nur noch Deutsche. Und deshalb haben Veranstaltungen wie die Aktuelle Stunde des Bundestages mit dem umständlich formulierten Thema „Aktuelle sozialwissenschaftliche Untersuchungen zu möglichen antisemitischen und israelfeindlichen Positionen und Verhaltensweisen in der Partei Die Linke“ etwas sehr Wohlfeiles. Schließlich lassen auch die anderen Fraktionen Israel regelmäßig im Stich – nur gehen sie dabei nicht ganz so grobmotorisch zu Werke wie die Linke. Ein Unterschied ums Ganze ist das jedoch nicht.

Zum Foto: Inge Höger während ihrer Rede auf einer Konferenz von Hamas-Sympathisanten in Wuppertal, 7. Mai 2011.