Ein Wellness-Abend mit Dr. Tibi



Der stellvertretende Sprecher der Knesset, ein arabischer Israeli, befindet sich derzeit auf Europa-Tournee – und erklärt seinem Publikum dabei allen Ernstes, Israel sei keine Demokratie. Jürgen Petzoldt hat sich den Auftritt des früheren Arafat-Beraters in Kassel angeschaut und für
Lizas Welt deprimiert ein Fazit gezogen.


VON JÜRGEN PETZOLDT


Im Café Buch-Oase zu Kassel kann man in Büchern stöbern, Minztee und Bionade trinken, Gleichgesinnte treffen. Gewerkschaften, Christen und andere halten dort Meetings ab, es gibt auch ein Kulturprogramm, Poetry-Slams und ein Flöten-Gebet. Wolfgang Gehrke von der Linkspartei hat in diesem Laden über sozialistische Außenpolitik referiert, und am vergangenen Sonntag war ein Chaver haKnesset zu Gast: Dr. Ahmed Tibi (Foto), Abgeordneter der arabisch-nationalistischen Ta’al-Partei und stellvertretender Sprecher des israelischen Parlaments, sprach zum Thema „Israel – eine Demokratie?“. Er ist auf Europa-Tournee; man hat ihn, wie er selbst sagt, eingeladen, über die „Nakba“ zu sprechen. Nun könnte man meinen, dass die Frage, ob Israel eine Demokratie ist, sich spätestens dann erledigt, wenn man erfährt, dass Tibi früher Yassir Arafats Berater war. Kann das sein – ein Arafat-Berater sitzt in der Knesset und ist ihr zweiter Sprecher? Es kann.

Ich besuche solche Veranstaltungen fast nie, es ist nutzlos, die dort vorherrschende Denkweise ist mir bekannt, wozu also? Aber den Doktor wollte ich mir dann doch nicht entgehen lassen. Sie hat ja gern auch mal etwas Peinliches, diese Pro-und-contra-Israel-Diskutiererei. Einem soliden antiisraelischen Mainstream von gefühlten 95 Prozent der Bevölkerung steht ein kleines Häuflein von Menschen gegenüber, die andere Positionen beziehen, darunter Wahnkranke wie zum Beispiel diverse Christen, die auf die Rückkehr ihres Messias warten und ihm in Israel die Landebahn zu bereiten gedenken, bevor es dann ans Judentaufen gehen soll. Peinlich sind mir die ganzen fruchtlosen Debatten aber auch deshalb, weil es Wichtigeres gäbe, hier und auf anderen Kontinenten, das zu erörtern wäre. Aber Israel ist nun mal seinen Feinden eine echte Herzensangelegenheit, und so gibt es kein Entrinnen.

Was also bietet der gute Doktor Tibi seinem Publikum aus Pax-Christi-Damen, Lehrern, Friedensaktivisten und anderen guten Menschen? Einen Haufen Lügen, Verzerrungen, falsche Darstellungen, kurz: palästinensische Propaganda. In schlechtem Englisch gibt er sich erst gar keine große Mühe und sondert ein paar Sätze ab, die ich alle vorher hätte erraten können. Es gebe in Israel nur den zionistischen Narrativ, der arabische werde gezielt unterdrückt. Kein Araber könne auf einer israelischen Universität studieren. Die arabischen 20 Prozent der Bevölkerung Israels seien im öffentlichen Leben unterrepräsentiert und zudem fast alle arbeitslos. Und so weiter, und so fort.

Es ist ganz einfach, all dies zu widerlegen. Dazu genügt eine tägliche, etwa fünfminütige Lektüre der israelischen Presse. Kaum ein Tag vergeht, an dem die Ha’aretz nicht über die Diskriminierung von Arabern berichtet. Tibi hat seinen Doktor an der Hebräischen Universität in Jerusalem gemacht. In der Knesset sind Araber ziemlich genau ihrem Bevölkerungsanteil entsprechend vertreten. Es gibt eine Benachteiligung arabischer Dörfer, es gibt aber auch eine Förderung arabischer Ortschaften. Oft verschwindet das Geld beim Bürgermeister, und in jedem Dorf findet man ein großes Anwesen mit Pool und fetter Karosse davor. All das kann man sehen, wenn man durch das Land reist. Die Roadblocks sind drastisch reduziert worden, in der Westbank blüht ein zartes Wirtschaftswunder-Pflänzchen.

Das alles sagt der Doktor jedoch nicht, und seine Zuhörer wollen es auch nicht hören. Er spricht lieber von der Mauer und darüber, dass es andere Möglichkeiten gebe, die Infiltration durch Terroristen zu verhindern (das ist übrigens ein interessanter Gedanke – gern hätte ich erfahren, was genau er meint). Israel sei eine durch und durch rassistische Gesellschaft, die Palästinenser bräuchten die Unterstützung Europas. Anschließend ist Raum für Fragen. „Habe ich Sie richtig verstanden? Israel ist also keine Demokratie?“, sagt einer und lässt die ganze Ladung folgen: Wie steht es um die Folter? In den Gefängnissen? In den besetzten Gebieten? Wie steht es um die Besuchsmöglichkeiten für Angehörige von in Israel einsitzenden Palästinensern? Wie können wir den Boykott vorantreiben? Was hält er von der Bombe des Iran? Ja, was hält er davon, das hätte mich auch interessiert. Tibi teilt aber nur mit, was er über die israelische Atombombe denkt.

Auch mir gelingt es, Ahmed Tibi ein paar Fragen zu stellen: Was sagt er zu den antisemitischen Schulbüchern in palästinensischer Kinderhand? Was hält er davon, dass „Kollaborateure“ geschlachtet werden? Wie denkt er über die Hetzkampagnen des Islamic Movement? Er antwortet nicht, sondern stellt mir eine Gegenfrage: Ob ich etwas über „incitement“ wissen wolle, über Aufwiegelung also. In der Tat, sage ich, darum geht es mir, wenn hier schon dauernd von „Rassismus“ und „Apartheid“ die Rede ist. „Incitement“ bräuchten die Palästinenser nicht, belehrt mich der Doktor, das besorgten die Israelis alles selbst. Jeder Palästinenser blicke, wenn er morgens aufwache, in ein israelisches Gewehr, und dann falle sein Blick auf die Gräber seiner Väter und Brüder. Befreites Auflachen und Beifall im Publikum.

Ich hätte ihn gern noch mehr gefragt. Zum Beispiel, warum er vom „Narrativ“ spricht. Ein Narrativ ist eine Erzählung auf der Basis von „Wir erzählen es (nun mal) so“. Folklore also, Märchen und Sagen der Völker. Auch hätte ich gerne gewusst, warum die Zeitung der libanesischen kommunistischen Partei (das müsste für ihn doch eine vertrauenswürdige Quelle sein) 1948 berichtete, die Araber verließen zu Zehntausenden ihre Dörfer, weil der irakische Oberbefehlshaber sie dazu aufgefordert habe, wohl in dem Glauben, man werde schnell fertig mit dem Judenpack. Warum erklärt er nicht, wieso man seit 40 Jahren nicht mehr von jordanischen und ägyptischen Arabern spricht, warum geht es auf einmal um einen palästinensischen Staat? Und warum sollen auf arabischem Boden keine Juden leben? Soll Palästina judenrein sein? Ich hätte auch gern erfahren, warum nie die Rede von den Tausenden illegal gebauten arabischen Wohnblocks im arabischen Teil Jerusalems die Rede ist.

Es soll nicht unerwähnt bleiben, dass der gute Doktor den Holocaust als größtes Menschheitsverbrechen bezeichnet. Es ist hier und heute nämlich überhaupt kein Problem, dies einzuräumen und im Anschluss zur Hatz auf „die Zionisten“ aufzurufen. „Er soll mal von seinen Hizbollah- und Syrien-Kontakten erzählen“, murmle ich. „Warum denn?“, fragt mein Nachbar. „Weil das Terroristen sind!“, versetze ich. „Ach Gott, was sind schon Terroristen“, sagt der Nachbar, „schauen Sie doch nach Gaza“. Was ist das nur, was die Leute wie besessen zu solchen Veranstaltungen gehen lässt? Welches Bedürfnis wird da befriedigt?

Mein Sohn lernt gerade für die mündliche Abiturprüfung, unter anderem geht es um die Weimarer Republik. Er sagt, er brauche ein Gefühl für die Zeit, um die Fakten besser zu verstehen. Wir haben viel geredet. Am Sonntagabend dachte ich mir: So muss es in diesen antisemitischen Zirkeln um die Jahrhundertwende gewesen sein: Alle sind ganz wissbegierig, eifrig und beflissen hören sie zu und addieren ihrem Weltbild einige weitere Facetten hinzu. „Das habe ich ja so noch gar nicht gewusst!“ sagte einer der Veranstalter nach dem „Vortrag“. Ja, potz Blitz, man lernt doch nie aus! Eine Mauer! Apartheid! Folter!

Mich beschlich die Vorstellung, das brauchen die zum Wohlfühlen. Da kann man sich drin suhlen, selbstgerecht und unkritisch, wie Kinder mit der Nuckelflasche. Dass dies alles unendlich kompliziert ist, wie man beispielsweise anhand von Yaacov Lozowicks brillanten Hebron- und Jerusalem-Analysen erfahren kann – keine Rede davon. Ich ging allein nach Hause, reichlich deprimiert. Nein, es macht keinen Spaß zu wissen, dass das, was ich im Café Buch-Oase gehört habe, Lügen und Halbwahrheiten sind. Ich fand es ziemlich entsetzlich, eigentlich gruselt es mich vor solchen Menschen.