Achte Liga, siebenhundert Kilometer

Ich geb’s zu, ich bin ein Trittbrettfahrer. Allenfalls könnte ich (wenngleich mit gutem Grund) behaupten, inspiriert worden zu sein von den schönen Erzählungen, die es nebenan auf dem Blog Catenaccio rund um das Thema »Fußball und Liebe« zu lesen gibt – und, natürlich, von Heinz Kamkes wunderbaren Erinnerungen an jenen »Bus- und Betttag«, dessen Verlauf und Ergebnis er so treffend mit den Worten »Drama, Baby!« zusammengefasst hat. Aber aus eigenem Antrieb hätte ich die folgende Geschichte wohl nicht niedergeschrieben – eine Geschichte, die mit einem aus der Zuneigung zum Fußball resultierenden Beziehungskonflikt zwar nichts zu tun, wohl aber eine enge Freundschaft auf die Probe gestellt hat. Und die weder aus der Perspektive eines Fans noch aus der eines Spielers erzählt wird, sondern aus jener eines Schiedsrichters, der ich seit 1985 bin, allen verwunderten bis missbilligenden Kommentaren zum Trotz.

Die Saison 1996/97 neigte sich allmählich ihrem Ende entgegen. In allen Spielklassen standen, wie jedes Jahr um diese Zeit, die Entscheidungen um den Auf- und den Abstieg unmittelbar bevor, eine Situation, die auch für Schiedsrichter immer einen speziellen Reiz hat. Schließlich stellen Alles-oder-nichts-Partien eine ganz besondere Herausforderung dar, man steht selbst in den Amateurligen deutlich mehr im Mittelpunkt als sonst, und jeder Fehler kann unmittelbare, überaus schwerwiegende Folgen haben. Doch an jenem 19. Mai 1997, dem vorletzten Spieltag in den Klassen meines Fußballverbands, hatte ich, wie es aussah, ausnahmsweise keinen Einsatz »an der Pfeife«. Das war einerseits aus den genannten Gründen betrüblich und bot andererseits die Möglichkeit, an diesem warmen Frühlingswochenende wahlweise einem potenziell dramatischen Amateurkick zuzusehen – oder das Weite zu suchen. Ich entschied mich für Letzteres, nachdem mich eine gute Freundin nach Bremen eingeladen hatte, wohin sie nach vielen gemeinsamen Jahren in Bonn gezogen war. Wir hatten uns schon eine Weile nicht mehr gesehen, und so sagte ich gemeinsam mit einer weiteren Freundin zu, ihr von Samstag bis Montag – ich war damals Student – die Aufwartung zu machen.

Doch am Freitag vor diesem Wochenende erreichte mich ein Anruf des Bonner Schiedsrichter-Ausschusses: Ob ich wohl am Sonntag in einem Vorort von Bonn ein Spiel in der Kreisliga A leiten könne, ich sei ja »auf Verbandsebene nicht angesetzt worden«. Dazu muss man wissen, dass ich damals Partien bis zur Landesliga pfeifen durfte und es dadurch eher selten vorkam, dass ich in Begegnungen unterhalb der Bezirksliga für einen geregelten Ablauf zu sorgen hatte. Bei meinem – sozusagen untergeordneten – Bonner Schiriausschuss hatte ich mich daher gar nicht erst abgemeldet. Der wiederum ging vollkommen zu Recht davon aus, dass ich genau aus diesem Grund eigentlich zur Verfügung stehen müsste, und wollte mich nun in die höchste Bonner Kreisklasse schicken. Allerdings handelte es sich nicht um irgendein Spiel, sondern immerhin um das des Tabellenführers gegen den Zweiten, wobei der Spitzenreiter, der FC Flerzheim, mit einem Sieg vorzeitig in die Bezirksliga aufsteigen und sein Verfolger, der FV Endenich, die Meisterschaft mit einem dreifachen Punktgewinn noch einmal spannend machen konnte.

Und dennoch: Gibt man einem Match auf einem Aschenplatz in der achten Liga ernsthaft den Vorzug vor dem Besuch einer engen Freundin? Ich bat den Anrufer aus dem Schiriausschuss um eine Stunde Bedenkzeit und meldete mich zehn Minuten später bei ihm: »Ich übernehme das Spiel.« Länger hatte ich nicht gebraucht, um mit der Freundin in Bremen einen Kompromiss zu vereinbaren: Am Samstagmorgen von Bonn nach Bremen, am Sonntagmorgen von Bremen aufs Dorf nach Flerzheim, am Sonntagnachmittag nach dem Spiel wieder zurück in die Hansestadt, am Montagnachmittag Heimfahrt ins Rheinland. Das hieß: rund 700 Kilometer extra, für eine Partie in der viertuntersten Klasse. Doch das war es mir wert, und ich war froh, beides unter einen Hut zu bekommen – auch wenn die Bremer Freundin begreiflicherweise wenig begeistert war. Aber sie kannte mich gut genug, um zu wissen, dass gegen meine seltsame Leidenschaft für die Schiedsrichterei schlicht und ergreifend kein Kraut gewachsen war.

Tatsächlich verzichtete ich am Samstagabend fast vollständig auf den Genuss von Alkohol und schälte mich am Sonntag in aller Herrgottsfrühe aus dem Bett, um rechtzeitig in Flerzheim zu sein, wo schon die Vielzahl von Imbiss- und Bierbuden davon kündete, dass ein nicht alltägliches Match anstand. Und als ich schließlich mit den Spielern den Platz betrat, säumten fast eintausend Zuschauer den Sportplatz – eine für ein Kreisligaspiel, wo sich sonst die immergleichen 50 Unentwegten verlieren, geradezu unvorstellbar große Menge. In der extrem temperamentvollen, engen und spannenden Partie fielen nicht weniger als neun Tore, die Gastgeber gewannen mit 5:4 und hatten damit bereits vor dem letzten Spieltag den Sprung in die Bezirksliga geschafft. Ich genoss jede Minute auf dem Platz und bekam von der lokalen Bonner Rundschau tags darauf bescheinigt, das Spiel »souverän« bewältigt zu haben. Das Adrenalin feierte noch mehrere Stunden lang in meinem Körper eine Party und ließ auch die neuerliche Autofahrt nach Bremen als einen Klacks erscheinen. Ich wusste genau, dass das Ganze vollkommen verrückt war. Aber es war trotzdem genau richtig.

Übrigens hatte die Geschichte noch einen durchaus ungewöhnlichen Nebenstrang. Denn das Spiel wurde auch von einer Kommilitonin verfolgt, mit der ich kurz zuvor ein studentisches Wochenendseminar zum Thema »Gott ist rund – Fußball aus sozialwissenschaftlicher Perspektive« besucht hatte. Meine Mitstudentin hatte dabei den Wunsch geäußert, einmal ein Amateurspiel zu sehen – weniger aus Interesse am Fußball als solchem als vielmehr, »um die Leute zu beobachten, die sich so was freiwillig anschauen«. Und nachdem sie erfahren hatte, dass ich einen mutmaßlich gut besuchten Kreisligakick in Flerzheim leiten sollte, entschied sie sich, ebenfalls dorthin zu kommen. Nach dem Spiel lud mich ein Verantwortlicher der Flerzheimer auf die obligatorische Bratwurst ein, und dabei versicherte er mir: »Ihre Frau ist natürlich ebenfalls willkommen.« Ich antwortete ihm, mit meiner Begleitung keinerlei Liebesbeziehung zu pflegen, worauf er bass erstaunt fragte: »Aber wer ist sie dann?« Wahrheitsgemäß beschied ich ihm: »Eine Kommilitonin, die sozialwissenschaftliche Studien zum Zuschauerverhalten bei Amateurspielen anstellt. Seit heute.« Der unbezahlbare Blick, den ich dafür erntete, wird mir unvergessen bleiben, genau wie die Entgegnung des Flerzheimer Funktionärs: »Egal. Sie kriegt trotzdem ein Würstchen.«